© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Die große Infamie
Aus humboldtschen Sphären in die Gosse: In der Rufmordkampagne gegen den Historiker Rolf Peter Sieferle offenbart sich die hilflose Wut seiner Kritiker
Andreas Lombard


Es ist eine schauprozeßhafte Vernichtungswut, die seit zwei Wochen gegen den Historiker Rolf Peter Sieferle (1949–2016) tobt. Anläßlich seines Kaplaken-Bändchens „Finis Germania“ (Antaios) versuchen taz, FAZ, Süddeutsche Zeitung, Zeit, Welt und Spiegel, diesen „himmelhoch überlegenen Kopf“ (Michael Klonovsky) in die Gosse zu treten. Sie lesen sein Buch nicht, um es zu verstehen, sondern um dessen Autor zu überführen. Die Anklage gilt als berechtigt, weil sie erhoben wird.

Sieferle selbst würde das kaum überrascht haben, schrieb er doch in einem seiner unveröffentlichten Aphorismen: „Sie werden alles ‘faschistisch’ nennen, was rechts von Dserschinskij steht.“ Seine Fragmente in Buchform bieten der Anklage gar keinen Anhalt – es sei denn, Sieferles Vorbehalte gegen gesinnungsethische Entpolitisierung, gegen die moralischen Anmaßungen der Nachgeborenen, gegen die Geschichtsphilosophie des Fortschritts und gegen den humanitären Universalismus wären vom Leibhaftigen diktiert. Was seine Verfolger durchaus zu glauben scheinen.

Einen Wissenschaftler, der den politischen Extremismus für eine Privatparodie auf überholte Ideologien hielt und der dem deutschen Rechts- und Leistungsstaat konservativ zuneigte, unterwirft man gleichwohl den schärfsten Verdikten der veröffentlichten Meinung. Auf völkisch, antisemitisch, rechtsextrem, revisionistisch und verschwörungstheoretisch lautet die erneute Anklage, seit der Spiegel-Redakteur Johannes Saltzwedel „Finis Germania“ auf die Bestenliste von NDR und der Süddeutschen Zeitung setzte. Allerdings wagt es Sieferle darin, die Sakralisierung des Holocaust kritisch als „veritable Staatsreligion“ zu beschreiben und diese „historische Offenbarung“ als das „einzige Absolute“ in einem ansonsten vollkommen relativistischen Zeitalter – eine erstaunliche Resakralisierung des politischen Raumes.

Drohung mit dem Strafgesetzbuch

Das ist im einzelnen nicht unbedingt neu, aber ungewöhnlich pointiert und zu Ende gedacht. Und während im Historikerstreit von 1986/87 unter anderem noch argumentiert wurde, wird heute sofort scharf geschossen. Dem Text des toten Autors, dieser „Störung des öffentlichen Gesprächs“ (Gustav Seibt), drohen der Redakteur Jan Grossarth in der FAZ und der Politikwissenschaftler Herfried Münkler im Deutschlandfunk mit dem Strafgesetzbuch. Obendrein verzichten die Anführer der Kampagne auf jegliche Rezension des inkriminierten Werkes und auf jegliches Referat seiner Thesen. Auch Sieferles Studie „Das Migrationsproblem“ (Manuscriptum) wird nicht besprochen. Man kramt vier oder fünf isolierte Zitate hervor, die als Beweise der Anklage nicht nur nichts belegen, sondern sogar wesentliche Glaubenssätze ebendieser hysterischen Verfolgerschar völlig korrekt wiedergeben.

Denn bekanntlich stammt die Rede von einem „Mythos“ namens Auschwitz nicht von Sieferle, sondern beispielsweise von Joschka Fischer (Auschwitz als „Gründungsmythos“). Und die Zweifel am Existenzrecht der Deutschen nach dem Holocaust, die Sieferle zum Ärger seiner intellektuellen Wächter lediglich nicht teilt, sind ebenfalls seine Sache nicht, sondern die einer antideutschen Linken, die seit langem auf unzähligen Richtersesseln, Lehrstühlen und Redaktionsschemeln sitzt. Dazu Sieferle: „Der Antifaschismus ist in starkem Maße Antigermanimus.“ Unter anderem aufgrund der sakralen Einzigartigkeit des Holocaust, auch das hat Sieferle erkannt, werden paradoxerweise offen antisemitische Zuwanderer von den Antideutschen als neues historisches Subjekt begrüßt. Wer treibt in diesem Land völkische Politik?

An den Tatsachen von Auschwitz zweifelt er nicht

Nachdem der bedeutendste Historiker der Energiesysteme von unbestreitbar universalgeschichtlichem Rang in der vergangenen Woche zu einem „nicht völlig unbedeutenden Autor“ mit „gewissen Verdiensten“ (Seibt) degradiert wurde, ist der platteste aller Hinweise nötig. Nämlich, daß „Finis Germania“ über weite Strecken aus geistesgeschichtlicher Rollenprosa besteht, die religiöse und geschichtsphilosophische Theorien referiert. Große Teile von „Finis Germania“ stammen aus den neunziger Jahren; die letzte Änderung nahm Sieferle am 10. April 2015 vor. Nicht irgendein Revisionismus, sondern Sieferles aufklärerische Haltung gegenüber dem „anthropophilen Deismus“ unserer Tage läßt ihn mit der Holocaust-Religion hadern.

An den Tatsachen von Auschwitz hegt er nicht nur nicht den geringsten Zweifel; Versuche ihrer Relativierung sieht er sogar „in heilloser Tradition zu einem Verfahren, das einst ‘Aufklärung’ hieß“. Und wenn er etwa die einst beklagte Schuld der Juden an Christi Kreuzestod erwähnt, dann mit dem Staunen eines Zoologen (das heißt: staunend über den Wahn der Christen).

Der historische, antijüdische Schuldvorwurf interessiert ihn nur deshalb, weil die Deutschen (im Unterschied zu den Juden) als erstes schuldbeladenes Volk der Weltgeschichte mit ihrer Selbstauslöschung liebäugeln und die Masseneinwanderung in ihre angeblich degenerierten Verhältnisse als innerweltliche Erlösung begrüßen. Sie sollen von der Bühne der Weltgeschichte verschwinden; jedenfalls nach Ansicht einer über sie wachenden Priesterkaste, die sich selbst vor drohendem Unheil in Sicherheit zu bringen sucht, indem sie andere Deutsche als verdunkelt, verstockt und rechtsextrem denunziert. Läßt sich doch der Feind in den eigenen Reihen, wie Sieferle wußte, sehr viel leichter bekämpfen als die Heerscharen todesmutiger junger Muslime.

Wenn FAZ und Süddeutsche in ihrer Verzweiflung behaupten, Sieferle rufe zum Volkssturm auf und erwarte von den indigenen Deutschen einen opfertodbereiten Abwehrkampf, dann ist das eine glatte Lüge, denn Sieferle hat seine Überlegungen zum Krieg als Ultima ratio der Politik nicht in den Rahmen des Migrationsthemas gestellt, sondern des Vergleichs von Politik und systemischen Ordnungen. Sieferle blieb bis zuletzt ein distanzierter Beobachter, der sich wie sein Heidelberger Kollege, der Philosoph Panajotis Kondylis (1943–1998), bewußt war, daß wertfreie Erkenntnis im Grenzfall das Leben kostet.

Vom stürzenden Ikarus erhoffte er sich, daß der nicht schreie, „bis die See ihn verschlingt“, sondern daß er die Augen geöffnet halte und „die erhabene Aussicht“ genieße, „solange sie sich bietet“. Das ist eine ästhetische und keine politische Haltung. Keineswegs scheint Sieferle am Ende seines Lebens verbittert gewesen zu sein, wie seine Witwe bezeugt; keine akute Erblindung und kein Krebstod bedrohten ihn. Sein Selbstmord hatte andere private Gründe.

Interessanter ist der Ablauf der Rufmordkampagne. Gustav Seibt, der öffentlich Sieferles „Absturz“ beklagt, der ihm „Anschwärzung [von Juden] in ganz altem und finsterem Stil“ vorwirft, „wüstes Schimpfen und Primitivität“, Verlust der Differenzierungsfähigkeit und gnadenlosen Zynismus; dieser Gustav Seibt hatte in seinem hymnischen Nachruf in der SZ vom 9. Oktober 2016 Sieferle in humboldtsche Sphären gehoben. Damals war Sieferle noch ein „unerschrockener, immer rationaler Denker, der sich auch dann nicht aus der Ruhe bringen ließ, wenn er apokalyptische Möglichkeiten erwog“. Inzwischen unterscheidet Seibt zwischen der wissenschaftlichen Leistung und den nachgelassenen Schriften, die er als Verirrungen eines kranken, alten Mannes hinstellt, der nicht mehr auf der Höhe seines Schaffens gewesen sei – Krokodilstränen inklusive. Und dieses Motiv hat sich einstweilen durchgesetzt.

Liste aus Verdrehungen und Verleumdungen

Seit den Veröffentlichungen in der Vierteljahreszeitschrift Tumult vom Winter 2015/16 und Winter 2016/17 waren allerdings Sieferles zentrale Thesen bekannt: die Unvereinbarkeit von Masseneinwanderung und Sozialstaat (vgl. „Das Migrationsproblem“), dann, daß der Asylrechtsartikel des Grundgesetzes kein „suicide pact“ ist, daß Deutschland nicht reich, sondern leistungsfähig ist und daß diese Leistungsfähigkeit auf einer kollektiven Kultur des Vertrauens beruht, die von der unkontrollierten Zunahme alltäglicher Gewalt zerstört zu werden droht. Aus der Sicht Sieferles gibt sich jene Politik „gesinnungsethischen Räuschen“ hin, die die möglichen Vorboten „umfassender Konvulsionen“ verkennt, „in denen alles untergehen wird, was uns heute noch als selbstverständlich erscheint“.

Noch nach der Lektüre dieser Notizen hoffte Seibt (am 6. Dezember in der SZ), daß der Eindruck „einseitig“ sei, Sieferle ginge es vor allem um Deutschland und die westlichen Industriegesellschaften. Von dem fortschrittsskeptischen Naturhistoriker, der die öl- und kohleverprassenden Schlaraffenländer der letzten 150 Jahre für eine weltgeschichtliche Ausnahmeerscheinung hielt, erwartete sich Seibt offenbar (wenn überhaupt) einen migrationskritischen Ansatz, der mit Hilfe von Thomas Robert Malthus (1766–1834) im Banne des humanitären Universalismus verbleiben würde: Damit die Menschheit überleben kann, dürfen nicht alle soviel verbrauchen wie wir. Offenbar hätte das eine zulässige, weil hinreichend diffuse Variante der Immigrationskritik sein können. Diesen Gefallen einer unpolitischen Verwässerung seiner Thesen hat Sieferle der Inquisition aber nicht getan. Vielmehr hat er seine Sympathie für europäisch-westliche Partikularinteressen bekundet, die jetzt nicht wegen ihrer Radikalität, sondern wegen ihrer maßvollen Rationalität vom Tisch gefegt werden sollen. Man könne seine Thesen ja diskutieren, dürfe sie aber nicht beliebigen Flugreisenden feilbieten, ließ sich Seibt im Deutschlandfunk vernehmen.

Nach einer Woche Theater ist die Reihe der Fehler, Falschheiten, Verdrehungen und Verleumdungen reichlich lang. Erstaunlich ist aber einzig und allein die Infamie, mit der etwa ein Jan Grossarth nach seinem haltlosen Beitrag vom 12. Mai im Wirtschaftsteil der FAZ anläßlich der Listung von „Finis Germania“ einen Monat später noch einmal (jetzt bei der FAS) in den Ring stieg, um Sieferle den finalen Stoß zu verpassen, woraufhin dessen Büchlein aber Platz eins der Verkaufsliste von Amazon erklomm. Übrigens, drei Monate lang war Sieferles Buch juryintern bereits als Kandidat für die „Besten“ gelistet. Daher dürfte die Angst der Juroren vor der Kollektivhaftung zumindest einen Teil ihrer Distanzierungswut erklären. Warum sie Sieferles Buch nicht früher auf der regelmäßig herumgeschickten Übersicht entdeckten, mag ihr Geheimnis bleiben. Ihre Hetzjagd geht uns alle an.


Chronik einer Kampagne:

17. September 2016
Der zuletzt an der Universität St. Gallen lehrende Historiker Rolf Peter Sieferle nimmt sich das Leben.

4. Oktober 2016
Die Wiener Umwelthistorikerin Verena Winiwarter schreibt in einem Nachruf, Sieferle sei ein „am Austausch immer interessierter Kollege, der auch wie kaum ein anderer bereit war, sich auf fremde Denkwelten einzulassen“.

9. Oktober 2016
In seinem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung würdigt Gustav Seibt den Verstorbenen als „unerschrockenen, immer rationalen Denker, der sich auch dann nicht aus der Ruhe bringen ließ, wenn er apokalyptische Möglichkeiten erwog“.

7. Dezember 2016
Die Vierteljahreszeitschrift Tumult veröffentlicht postum Sieferles Notate zu den Folgen der Migrationskrise sowie Briefauszüge.

Februar/März 2017
Im Manuscriptum-Verlag erscheint als erster Band der Tumult-Werkreihe Sieferles Buch „Das Migrationsproblem. Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung“. Eine Sammlung nachgelassener Betrachtungen und Aphorismen erscheint unter dem Titel „Finis Germania“ im Verlag Antaios von Götz Kubitschek (JF 13/17).

14. März 2017
Die Publizistin Cora Stephan empfiehlt  in ihrer Kolumne in der Wirtschaftswoche „Das Migrationsproblem“ als schmerzliche, aber notwendige Lektüre, um die deutsche Wirklichkeit klar zu sehen.

12. Mai 2017
Unter der Überschrift „Am Ende rechts“ attackiert die FAZ Sieferles Spätwerk. Für den Autor Jan Grossarth sind es „giftige, rechtsradikale Bücher“.

26. Mai 2017
JF-Autor Thorsten Hinz antwortet in dieser Zeitung auf die Vorwürfe der FAZ, weist sie als perfide zurück und nennt den Artikel eine „dummdreiste Gemeinheit“ (JF 22/17).

7. Juni 2017
In der taz skandalisiert deren „Rechtsextremismusexperte“ Andreas Speit, daß auf der gemeinsam vom NDR und der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Sachbuchliste des Monats Juni auf Platz 9 Rolf Peter Sieferles Band „Finis Germania“ empfohlen wird.

11. Juni 2017
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung behauptet auf ihrer Titelseite, in der Sachbuchliste sei ein „rechtsextremes Werk“ aufgetaucht, womöglich enthalte es „strafbare Inhalte“. Die Süddeutsche Zeitung moniert, daß sich bis dahin noch kein Jury-Mitglied zu der Sieferle-Empfehlung bekannt habe.

12. Juni 2017
Der NDR distanziert sich von dem Buch, spricht von einer „gravierenden Fehlentscheidung der Jury“ und setzt die Veröffentlichung der Empfehlungsliste bis auf weiteres aus. Am gleichen Tag bekennt sich der Spiegel-Redakteur Johannes Saltzwedel dazu, „bewußt ein sehr provokantes Buch“ auf die Liste votiert zu haben. „Sieferles Aufzeichnungen sind die eines final Erbitterten, gewollt riskant formuliert in aphoristischer Zuspitzung“, erklärt Saltz­wedel. „Man möchte über jeden Satz mit dem Autor diskutieren, so dicht und wütend schreibt er.“
Am Abend erklärt Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer: „Ich habe nach der Lektüre der wesentlichen Kapitel kein Verständnis dafür, daß der Kollege Saltzwedel dieses Buch empfohlen hat, und wegen des entstandenen Schadens begrüße ich seinen Rücktritt aus der Jury.“

14. Juni 2017
Der Zeit-Feuilletonredakteur Alexander Cammann behauptet, in den letzten beiden Büchern Rolf Peter Sieferles werde „jedenfalls in rechtsradikalem Sound gegen das politische System geraunt“.

17. Juni 2017
Zur Empfehlung seines Redakteurs Johannes Saltzwedel erklärt sich der Spiegel in eigener Sache: Das Buch „Finis Germania“, heißt es in der aktuellen Ausgabe,  „mag sich im streng juristischen Sinne noch innerhalb der Grenzen der freien Meinungsäußerung befinden, es befindet sich aber deutlich außerhalb dessen, was mit dem Spiegel als Absender identifiziert werden soll“.
In der Welt behauptet Eckhard Fuhr, Sieferles Buch sei „eine geistige Abstellkammer, in der seit Jahrzehnten nicht gelüftet wurde“. In ihr miefe „die alt- und neurechte Möchtegern-Dissidenz bundesrepublikaner Vergangenheitspolitik vor sich hin“.



Bücher von Rolf Peter Sieferle

Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Propyläen, Berlin 1994, gebunden, 365 Seiten, nur noch antiquarisch erhältlich


Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen. S. Fischer, Frankfurt am Main 1995, gebunden, 252 Seiten, nur noch antiquarisch erhältlich


Das Migrationsproblem. Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung, Manuscriptum, Waltrop 2017, broschiert, 136 Seiten, 16 Euro


Finis Germania. Verlag Antaios, Schnellroda 2017, kartoniert, 104 Seiten, 8,50 Euro

Andreas Lombard war bislang Leiter der Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, zu der auch der von ihm gegründete Landt Verlag gehört, und ist seit kurzem Chefredakteur eines neuen Zweimonatsmagazins, das ab September erscheint. Der Landt Verlag legt im Rahmen seiner Sieferle-Werkausgabe im Herbst die Neuausgabe des „Epochenwechsel“ vor und im Frühjahr 2018 das nachgelassene Großwerk „Krieg und Zivilisation“. www.manuscriptum.de

Foto: Rolf Peter Sieferle (1949–2016): Den Gefallen, seine Thesen zu verwässern, hat er der feuilletonistischen Inquisition nicht getan