© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Brüssel sieht sich auf gutem Weg
Mittelmeer-Migration: Private Seeretter schlagen Alarm, und Österreichs Außenminister sorgt für Schlagzeilen
Michael Ludwig

Für Sebastian Kurz ist die Sachlage seit langem klar. „Die illegale Migration muß gestoppt werden. Nach der Westbalkanroute muß auch die Mittelmeer-Italien-Route geschlossen werden“, spricht der Außenminister Österreichs in die Mikrofone. „Die einzige Lösung, um den Schleppern die Geschäftsgrundlage zu entziehen und das Sterben im Mittelmeer zu beenden, ist, wenn man sicherstellt, daß jemand, der sich illegal auf den Weg macht, nicht in Mitteleuropa ankommt“, betonte der neue Chef der  ÖVP gegenüber der Presseagentur APA. Als Lösung propagiert der 30jährige Aufnahmelager in Tunesien und Ägypten. Beide Länder würden dieser Politik sicher zustimmen, wenn ihnen die EU ein „attraktives Angebot“ machen würde, betonte er.

20 Rettungseinsätze an einem Vormittag

Die illegale Migration via Libyen über das Mittelmeer schlägt derzeit hohe Wellen. Wurden 2016 auf der zentralen Mittelmeerroute 180.000 Migranten von der italienischen Küstenwache, fünf Rettungsschiffen der von der EU gesteuerten Operation „Sophia“ und Dutzenden privaten Seenot-Aktivisten mit ihren Booten (JF 22/17) gerettet, waren es in den ersten fünf Monaten dieses Jahres bereits 60.000. Tendenz steigend.

Gerade letztere stehen immer wieder im Zentrum der Kritik. Zuerst sorgte  der italienische Staatsanwalt Carmelo Zuccaro Ende April mit seiner Aussage, die „Nothelfer“ kooperierten mit den Schleppern, für Schlagzeilen. Vergangene Woche erhob ein Oberstleutnant der libyschen Küstenwache schwere Vorwürfe. Die Nichtregierungsorganisationen arbeiteten mit Schleppern zusammen, erklärte  Oberstleutnant Tarek Shanboor der Daily Mail. Die Schleuser riefen die Hilfsorganisationen an und würden auch von ihnen bezahlt werden, kritisierte Shanboor. Es gebe Telefonmitschnitte und Bankdaten, die das bewiesen. „Sie zahlen bis zu 450 Dollar pro Migrant an die kriminellen Gangs.“ Immer wieder habe die libysche Küstenwache Schiffe von Hilfsorganisationen aufgefordert, sich von libyschen Gewässern fernzuhalten und dort nicht auf Schlepperboote zu warten.

Parallel dazu veröffentlichte die spanische Tageszeitung El Pais Teile eines vertraulichen Dokuments der EU. Innerhalb weniger Minuten, so schreibt das Blatt, verlasse ein Boot voller Flüchtlinge nach dem anderen die libysche Küste, ohne daß sie daran gehindert werden. Als Beispiel nennt El Pais, daß es an einem einzigen Vormittag 20 Rettungseinsätze gab, um die Migranten aus ihren selten seetüchtigen Schlauchbooten oder hoffnungslos überfüllen Kähnen zu bergen.
Während die Rettungsboote der  Nichtregierungsorganisationen die Migranten an Bord  nähmen und sich um nichts anderes kümmerten, seien die Marineschiffe der EU dazu angehalten, nebenbei auch noch die Boote der Schleppermafia zu versenken. 347 waren es im vergangenen Jahr. Doch die nordafrikanische Mafia sei gewitzt genug, diesen Verlust schnell zu ersetzen. Aufnahmen von Flugaufklärern zeigten, daß ihre Boote bis kurz vor die italienischen Hoheitsgewässer fahren, dann würden die leistungsstarken Außenbordmotoren abgebaut und in ein kleines Begleitschiff verladen. Die Schlepper gingen von Bord und überließen die Zurückgebliebenen ihrem Schicksal. Neue Boote, die mit den in Sicherheit gebrachten Außenbordmotoren ausgerüstet werden können, seien billig und in großer Zahl zu haben.

Dennoch sieht sich die Europäische Kommission auf gutem Wege. Durch eine engere Zusammenarbeit mit Schlüsselländern in Afrika, die auf die Eindämmung der Migrationsströme entlang der zentralen Mittelmeerroute abziele und bei der ein besonderer Schwerpunkt auf der Zusammenarbeit mit Libyen (Ausbildung libyscher Küstenschützer,  Reparatur von vier Küstenwachschiffen) liege, konnten Fortschritte im Kampf gegen Schleuser erzielt werden, heißt es aus Brüssel.

Zwei Milliarden Euro zur Bekämpfung der Migration 

Über den EU-Treuhandfonds würden in einem einzigen Jahr rund 1,9 Milliarden Euro für 118 Projekte zur Bekämpfung der Ursachen der Migration bereitgestellt und Herkunfts- und Durchreiseländer bei der Verbesserung der Migrationssteuerung unterstützt. Es bedürfe jedoch in einer Reihe von Bereichen „weiterer Anstrengungen, damit mehr irreguläre Migranten in Partnerländer rückgeführt und dort rückübernommen“ werden könnten.

Zur Bewältigung der „anhaltend kritischen Situation“ entlang der zentralen Mittelmeerroute habe die EU ihre Zusammenarbeit mit den Partnern in Nordafrika, insbesondere mit Libyen, intensiviert. Im Rahmen des Nothilfe-Treuhandfonds der EU für Afrika wurde ein Hilfspaket im Umfang von 90 Millionen Euro angenommen, um den Schutz von Migranten und Flüchtlingen (auch in den Aufnahmezentren) zu stärken und die „Aufnahmegemeinschaften in Libyen“ zu unterstützen. Laut der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini wurde zudem das Programm für die „unterstützte freiwillige Rückkehr und Wiedereingliederung“ fortgesetzt. 2017 wurden entsprechend „allein aus Libyen bislang mehr als 4.000 Migranten in ihre Herkunftsländer zurückgeführt, deutlich mehr als im gesamten Jahr 2016. Im Juni 2017 habe die EU darüber hinaus ihre Absicht erklärt, den Einsatz der gemeinsamen G5-Streitkräfte mit Truppen von Mali, Mauretanien, Niger, Nigeria und Tschad bei der Sicherung sensibler Grenzregionen mit bis zu 50 Millionen Euro zu unterstützen.

Gerade die Kooperation der EU mit Libyen mißfällt jedoch den privaten Lebensrettern. Deshalb verfaßten Timon Marszalek (SOS Méditerranée Deutschland), Frank Dörner (Sea-Watch) und Florian Westphal (Ärzte ohne Grenzen) Anfang Juni einen Brief an Angela Merkel, in dem sie die „unbegründeten Vorwürfe“ zurückwiesen und die Kanzlerin aufforderten, sich „öffentlich zum Verhalten der libyschen Küstenwache zu positionieren“. Jegliche direkte oder indirekte Unterstützung der libyschen Küstenwache durch europäische oder italienische Behörden, so die Lebensretter, trage noch mehr zur Gefährdung von Menschenleben bei und sollte daher unterbleiben.
Als Beispiel nannten sie einen Vorfall vom 23. Mai, als bei Versuchen der libyschen Küstenwache, Flüchtlingsboote zur Umkehr zu bewegen, mehr als 60 Menschen ins Wasser sprangen und dann vom Rettungsschiff „Aquarius“ von SOS Méditerranée und Ärzte gerettet wurden.

Auch Außenminister Kurz’ Forderung nach Schließung der Mittelmeer-Route stößt auf wenig Gegenliebe. FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl wertet sie  als „unverbindliche Marktschreierei“. Die von Kurz ins Spiel gebrachten Resettlement-Programme seien nichts anderes als eine brandgefährliche Augenauswischerei und keinesfalls geeignet, eine Verringerung des Migrationsdrucks zu erreichen. „Das bedeutet auf lange Sicht, daß unter dem Deckmantel der Flucht die illegale Migration nach Europa legalisiert“ werden solle. Auch Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) sprach sich gegen  die „Produktion von Schlagzeilen“ durch Außenminister Kurz aus.