© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Höllenritt durch die Vergangenheit
Mnemotechnik: Der Schriftsteller Christoph Hein beleuchtet Familienschicksale im „Zeitalter der Extreme“
Felix Dirsch

Erinnerung wird im frühen 21. Jahrhundert auf allen kulturellen Sektoren großgeschrieben. Folglich ist auch für einen Jahrhundert-roman wie den von Christoph Hein das Gedächtnis ein zentrales Thema. Doch geht es dem Autor nicht nur um kollektive Überlieferung, sondern auch um die einzelner Menschen, um die einzelner Familien.

Das Individualgedächtnis läßt sich trainieren. Dabei ist nicht nur die Zeit im fortgeschrittenen Alter gemeint, wenn sich das Gehirn durch Krankheiten wie Demenz, die sich im Zuge des demographischen Wandels schnell ausbreiten, wandelt. Im Zeitalter technisch-digital stark verbesserter Speichermöglichkeiten bringt die Omnipräsenz von Informationen Schwierigkeiten und Spannungen wie nie zuvor mit sich. Das Netz vergißt nicht und damit bleibt der Einzelne mit allem, was verzeichnet ist, konfrontiert – schlimmstenfalls sein Leben lang.
Am Anfang des Romans schildert der Erzähler, wie er anläßlich eines Vortrages einen Herrn namens Maykl Trutz trifft, der von Mnemonik berichtet. Einst sei er in diese wissenschaftliche Disziplin, die Merkhilfen entwickelt, aber kaum bekannt ist, von einem Experten eingeweiht worden, zudem habe er durch Training beachtliches Gehirnjogging erfahren. Der Erzähler besucht den spleenigen Alten mehrmals. Dieser blättert die Familienchronik auf, angefangen von seiner Kindheit in der UdSSR. Bald darauf stirbt er. Der Gang in die Archive zur Ergänzung des Gehörten fällt dem Berichterstatter aufgrund der erhaltenen interessanten Hinweise nicht schwer.

Hein wählt wieder die Form des Montageromans, wie früher schon in „Frau Paula Trousseau“. Diesmal dürfte der Erfolg jedoch größer sein.
Rainer Trutz, Maykls Vater, einer der Protagonisten, stammt aus ländlichem Milieu. Um der Öde der harten Arbeit des Bauernhofes zu entkommen und seine geistigen Fähigkeiten zu pflegen, zieht es den jungen Mann nach Berlin. Es ist die Zeit der „Roaring Twenties“, der Goldenen zwanziger Jahre. In der Reichshauptstadt hat er Probleme, Fuß zu fassen. Er wird Journalist und Buchautor. Bald schließt er Kontakte zu linken Intellektuellen. Er besitzt sogar Verbindungen zur Weltbühne. Über eine Bekannte, die lettische Emigrantin Lilija Simonaitis, lernt er die junge Gudrun kennen. Er freundet sich mit ihr an. Sie gehört dem Kreis der religiösen Sozialisten um den protestantischen Theologen Paul Tillich an.

Konfrontiert mit stalinistischem Terror

Die Machtergreifung Hitlers macht eine Flucht des Paares notwendig. Nach einigem Hin und Her erhalten sie ein Visum für die Sowjetunion, obwohl sie keine dogmatischen Kommunisten sind. Beide verdienen sich dort ihr Brot mit harter körperlicher Arbeit. Dem Ehepaar Trutz wird 1934 Sohn Maykl geboren. Gudrun und Rainer lernen den Neurolinguisten Waldemar Gejm, dessen Vorfahren aus Deutschland stammen, mit Gattin und den zwei Söhnen kennen. Der Gelehrte schult nicht nur seine Kinder, sondern auch den heranwachsenden Maykl in mnemotechnischen Praktiken. Dessen Leben wird davon maßgeblich geprägt.

Beide Familien (und ihr Umfeld) werden Ende der 1930er Jahre in den stalinistischen Terror verstrickt. Gejm wird erst degradiert und dann deportiert, später kommt er um. Trutz teilt sein Schicksal. Der Erzähler schildert datailgenau, wie perfide die Anklage funktioniert. Die Leiden sind kaum zu beschreiben. Rainer stirbt im Strafgefangenenlager, die Angehörigen hoffen noch Jahre später auf Briefe und Heimkehr. Paranoider Verfolgungswahn greift um sich. Vor Juni 1941 lebt man in Angst, an Deutschland ausgeliefert zu werden. Nach Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion wird Gudrun hingegen der Sympathie für die faschistischen Eindringlinge bezichtigt. Erschöpft und entkräftet endet ihr Leben im Arbeitslager.

Die beiden Gejm-Söhne, Rem und sein Bruder, überleben die wechselnden weltpolitischen Konstellationen, ebenso Maykl. Er übersiedelt in den frühen fünfziger Jahren in die DDR und erhält aufgrund seiner fabelhaften Merkfähigkeit eine Anstellung im Archiv. Trutz enttarnt einen ehemaligen Nationalsozialisten in der oberen Führungsriege des ostdeutschen „Arbeiter und Bauernstaates“. Er ist bei den anschließenden Intrigen gegen ihn gerade noch in der Lage, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Seine erste Ehe scheitert, weil er alles detailgenau weiß, nichts vergessen kann. Die Staatsoberen sind ebenso genervt wie die Gattin, wenn über keine Sache Gras wachsen kann.

Nach den Umbrüchen von 1989/90 treffen sich Rem und Maykl wieder in der vereinigten Bundesrepublik. Ein geplanter Gegenbesuch in Moskau findet nicht statt. Rem wird erschlagen, wie seine Ehefrau mitteilt. Der Mord kann, wie sich herausstellt, nicht aufgeklärt werden. Nun ist es Trutz allein, der die Last der Erinnerung trägt, wie es einst war, im kommunistischen „Paradies der Werktätigen“.

Der Computer hat über das Gedächtnis gesiegt

Selten trifft das Motto der Operette „Die Fledermaus“ von Johann Strauss („Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist“), so zu, wie in diesem Zusammenhang. Das Erhabene an Heins jüngstem Werk ist die Verbindung von narrativer Begabung und der wissenschaftlichen Hauptaussage: nämlich die vom Erfolg mechanistischer Potentiale.

Der Computer, von dem im Text noch gar nicht die Rede ist, hat mittlerweile längst den Sieg über das menschliche Gedächtnis davongetragen. Braucht man es überhaupt noch zu üben, wie es der Sprachwissenschaftler Gejm für nötig gehalten hat? Er ist aus heutiger Sicht eine symbolhafte Gestalt der Konkurrenz des Menschen mit der Maschine, ein Wettbewerb, der nicht mehr zugunsten des Menschen ausgeht, wie jüngst auch der Sieg des Programms „Alpha Go“ von Google über den Europameister im Go-Spiel gezeigt hat. Eines ist jedenfalls sicher: Neuronale Netzwerke vergessen nicht, für Menschen ist die „Lethe“ hingegen lebenswichtig. Vielleicht ist das aber von Vorteil.

Der aktuelle Roman Heins gilt vielen Kennern seines Œuvres nicht von ungefähr als herausragend. Wer ihn gelesen hat, stimmt dem Literaturkritiker Denis Scheck zu, der ihn als wichtigsten dieses Frühjahrs bezeichnet hat.

Christoph Hein: Trutz. Roman, Suhrkamp, Berlin 2017, gebunden, 477 Seiten, 25 Euro