© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Es droht ein Krieg aller gegen alle
Jahrestagung der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt: Über die Verwundbarkeit einer immer digitaleren Gesellschaft
Klaus Fritsch

Beinahe eine Duplizität der Ereignisse: In Dresden eruierten die Innenminister des Bundes und der Länder Möglichkeiten des Kampfes gegen Sicherheitslücken im Internet, weiter südlich, im oberbayerischen Ingolstadt, stand das Sicherheitsproblem auf dem Programm der Frühjahrstagung der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle (ZFI).

Die ZFI demonstrierte damit, daß ihr thematischer Bogen weiter gespannt ist, als ihr die linken Gegner, die vor der Kurfürstlichen Reitschule zu einer Mahnwache gegen „Geschichtsrevisionismus“ aufmarschiert waren, unterstellten. Der Politikwissenschaftler Gebhard Geiger (TU München) erläuterte dem Auditorium die „enorme Verwundbarkeit des digitalgestützten Datenverkehrs“ – ein nachgerade hochaktuelles Thema. Energieversorgung, Verwaltung und Industrie seien einer „enormen, vielfältigen Verwundbarkeit“ ausgesetzt. Geigers bitteres Resümee: In diesem „Krieg aller gegen alle“ sei ein genaues Erkennen eines digitalen Angreifers kaum möglich.

Herausgefordert fühlte sich das Häuflein Antifa-Kämpfer vor allem durch die Präsenz des Historikers Mario Kandil, der in seinem Referat eine schonungslose Analyse der gegen Deutschland gerichteten britischen und US-Propagandakampagnen, schon während des Ersten Weltkriegs, vornahm. Stichworte: „Die Klauen der Hunnen“ und „Der Kaiser – Die Bestie von Berlin“. Kandil, der bei Peter Brandt promoviert hat, zählt zu den Wissenschaftlern, an denen sich die Linke besonders eifrig abarbeitet. Dennoch scheute er sich in Ingolstadt nicht, der „Frankfurter Schule“ vorzuwerfen, maßgeblich zur weitgehenden Zerstörung der nationalen Identität der Deutschen beigetragen zu haben. Kandil vergaß auch nicht daran zu erinnern, in welchem Ausmaß die Sieger des Zweiten Weltkrieges die öffentliche (und veröffentlichte) Meinung in Nachkriegsdeutschland geprägt haben. Diese Hinweise genügten offenbar den Demonstranten, um auf Flugblättern eine „Diffamierung der Befreiungsmächte“  zu beklagen. Die Teilnehmer der ZFI-Tagung reagierten auf die Vorwürfe mit Gelassenheit.

Vergleiche mit deutschen Vertriebenen sind unredlich

Der Journalist und Autor Gernot Facius, seit einem Jahr Vorsitzender der ZFI, bekannte sich dazu, Diskussionen anzustoßen, die in der üblichen Geschichtswahrnehmung zu kurz kommen. In seinem Vortrag („Zweierlei Schicksal: Vertriebene damals – Migranten heute“) wandte er sich gegen undifferenzierte Schicksalsvergleiche. Ein Vergleich der Ost- und Sudetendeutschen mit den heutigen „Flüchtlingen“ führe „nicht nur in die Irre, er ist auch falsch“, zitierte er den Historiker Mathias Beer (Tübingen). Und er verwies auf ein gravierendes Sicherheitsproblem, das sich bei der Aufnahme der deutschen Heimatvertriebenen so nicht stellte: das Fehlen brauchbarer Identitätspapiere. „Bei vielen der monatlich etwa 13.000 einreisenden Personen weiß der Staat nicht, wen er vor sich hat. Er ist vor allem auf die Erzählung des Ankömmlings angewiesen.“  

Außerdem gelte es Abschied zu nehmen von einer Legende: „Die Flüchtlinge von heute werden nicht zur Grundlage eines neuen ‘Wirtschaftswunders’ werden. Sie werden auch kaum die ‘neuen Gastarbeiter’ sein, wie einige Industrielle und Politiker noch 2015 meinten.“ Dazu fehle den meisten von ihnen die Qualifikation. Zu rechnen, so der Referent, sei nach Befürchtungen der Forscher des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) mit einer Verschlechterung der „Qualifikationsstruktur in Deutschland“ – selbst dann, wenn ein großer Teil der Migranten noch Kompetenzen erwerbe. Im Klartext: Es verbietet sich eine Gleichsetzung mit der erfolgreichen Integration der Ost- und Sudetendeutschen, die nachträglich in den Rang eines erfolgreichen Gründungsmythos der jungen Bundesrepublik erhoben wurde.
 
Facius wies auch auf einen heute fast vergessenen Aspekt hin: Was heute als politisch bedenklich empfunden würde, war in den ersten Nachkriegsjahren „ohne weiteres möglich“, nämlich ein Schicksalsvergleich zwischen Vertriebenen und NS-Opfern. Er erinnerte an den Soziologen Eugen Lemberg, der 1950 schrieb: „Was Juden durch Deutsche zugefügt wurde, ist diesen von Tschechen und Polen widerfahren.“ Es war die Zeit, als selbst SPD-Politiker nicht zögerten, die Vertreibung als „Völkermord“ zu bezeichnen.