© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Wunderliche Toleranz
Der deutsch-französische Publizist Afred Grosser sinniert über Wohl und Wehe sozialer Identitäten im europäischen Zeitalter der Masseneinwanderung
Konrad Löw

Schöpferisches Alter! Alfred Grosser kam 1925 in Frankfurt am Main zur Welt und ist nebenbei, wenn nicht sogar in erster Linie, als Vortragsreisender unterwegs. Worum geht es dem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels? Grosser hat viel erlebt und viel bedacht und bekennt, daß er mit seinem Reden und Tun zum Guten beeinflussen möchte.
 
Zunächst stellt sich der Autor vor, obwohl ihn wohl viele – nicht zuletzt dank seiner medialen Präsenz und seiner Veröffentlichungen – gut kennen: „Ich sei, schrieb ein deutscher Journalist einmal mit recht, ein ‘jüdisch geborener, mit dem Christentum geistig verbundener Atheist’.“ Was nun folgt, sind jene Elemente seiner Weltanschauung, die ihn beschäftigen, worüber nachgedacht werden soll – sein geistiges Vermächtnis.

Versöhnung im Geiste der Wahrheit vollziehen

Sein Hauptanliegen lautet: das „schlimme die“: Die Muslime, die Frauen, die Juden, die Deutschen, die Flüchtlinge. Er wird anschaulich konkret: „Nicht nur, daß alle Deutschen Antisemiten und an der Vernichtung wenigstens als Mitwisser schuldig gewesen waren. Das deutsche Volk insgesamt hatte mindestens seit dem 19. Jahrhundert eine Veranlagung zum Judenmord.“ Jeder billig und gerecht Denkende wird ihm beipflichten, wenn er derlei Sentenzen energisch verdammt, und wird dem jüdischen Franzosen dankbar sein.

Was die Gleichwertung von Mann und Frau betrifft, so schildert und begrüßt Grosser die Fortschritte in der Emanzipation. Das lange zweite Kapitel „Geschichte und Erinnerung“ beginnt mit einem Bann. Er trifft zwei Begriffe: „undenkbar“ und „unvergleichbar“. Es endet mit der Aufforderung: die Wahrheit erforschen „und die Versöhnung im Geiste der Wahrheit vollziehen.“
Im dritten Kapitel geht es um Politik. Der Autor stellt gleich klar: „Politik ist überall.“ Und so geht es nicht nur um ganz Grundsätzliches wie das Spannungsverhältnis zwischen Legalität und Legitimität, sondern auch um das Problem des Parteienverbots und „Stuttgart 21“.

Auch „Europa ohne und mit Flüchtlingen“ bildet ein Kapitel für sich, das kaum eine Frage ausspart. Was Grosser am Ende des Kapitels „Gesellschaft“ ausführt, offenbart eine wunderliche Toleranz: „Unsere vier Söhne sind katholisch getauft worden – nicht trotz, sondern wegen meines Atheismus.“ So schlägt er die Brücke zum letzten Kapitel, in dem es um die Religionen geht. Stichworte sind: „Die Schrift“, „Christentum“, „Die Päpste“, „Luther“, „Juden und Israel“, „Der Islam bei uns.“

Der Leser kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der emeritierte Politikwissenschaftler einer jener Atheisten ist, die ständig mit dem Gott ringen, dessen Existenz sie leugnen. An vielen Stellen beweist Grosser, daß ihm die Heilige Schrift eben doch kein Buch mit sieben Siegeln ist. Vielleicht hat er aber bisher ein Pauluswort (an die Hebräer 11, 1-7) überlesen: „Glaube aber ist, feststehen in dem, was man erhofft.“ Wer diesen Glauben bejaht, hat – dank den tradierten Geboten – festeren Boden unter den Füßen, wenn er Antworten auf Fragen der Ethik und der Legitimität willkürfrei zu geben versucht, als wer sich seine Ethik aus den eigenen Fingern saugt.

Alfred Grosser: Le Mensch. Die Ethik der Identitäten. Verlag J. H. Dietz, Bonn 2017, gebunden, 284 Seiten, 24,90 Euro