© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/17 / 30. Juni 2017

„Ihr habt doch keine Ahnung“
Grünen-Parteitag: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann liest seiner Partei in Sachen Realpolitik die Leviten / Video sorgt für Aufregung
Felix Krautkrämer

Ein Video macht eine Welle. Über eine halbe Million mal schon wurde es bei Youtube aufgerufen, Medien berichteten darüber. Die Handlung: ein Zwiegespräch von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit dem Grünen-Bundestagsabgeordneten Matthias Gastel am Rande der Bundesdelegiertenkonferenz in Berlin am vorvergangenen Wochenende. 

Dort wollte die Partei eigentlich Einigkeit demonstrieren: „Wir haben es geschafft, daß wir in der Zusammenfassung unseres Programms alles, was in der Partei Rang und Namen hat, hinter uns versammeln konnten“, lobte Spitzenkandidat Cem Özdemir. Von Winfried Kretschmann, über Robert Habeck über Tarek Al-Wazir bis Claudia Roth und Jürgen Trittin. „Alle unterstützen das. Das zeigt, die Grünen sind einig und wissen, was sie wollen.“ Doch der Videomitschnitt straft Özdemir – zumindest was Kretschmann betrifft – Lügen. Denn der wäscht Gastel gehörig den Kopf. Anlaß ist die im Wahlprogramm beschlossene Forderung, ab 2030 keine Neuwagen mit Verbrennungsmotoren mehr zuzulassen und stattdessen voll auf das Elektroauto zu setzen. 

Christian Jung von „Jouwatch“ ist es gelungen, Kretschmanns gut zweiminütige Philippika aufzuzeichnen: „Ihr habt doch keine Ahnung. Das sind Schwachsinns-Termine. Wie kann man denn so ein Zeug verzapfen?“ schimpft der  Stuttgarter Regierungschef. Seine Warnung an die Parteifreunde im Bundestag: „Ihr könnt das machen. Macht das. Es ist mir egal. Ihr könnt das so beschließen. Dann seid aber mit sechs Prozent oder acht einfach zufrieden!“ Und: „Jammert nicht rum und laßt mich in Ruhe.“

Nachdem das Video publik wurde, kritisierte Kretschmanns Regierungssprecher Rudi Hoogvliet die Aufnahmen gegenüber der Nachrichtenagentur dpa scharf. Das sei eine „Verwilderung der Sitten“, klagte er. „Ein solcher Lauschangriff und dessen Veröffentlichung ist zumindest sittenwidrig.“ Es habe sich nicht um eine öffentliche Debatte beim Parteitag, sondern um ein privates Gespräch mit einem befreundeten Bundestagsabgeordneten gehandelt. Dies aufzunehmen sei sehr fragwürdig.

Gegenüber der JUNGEN FREIHEIT wies Journalist Jung diese Vorwürfe zurück. „Das ist völlig absurd. Ich stand mit meiner Kamera auf Stativ keine zwei Meter von Herrn Kretschmann und Herrn Gastel entfernt. Die Aufnahmesituation war eindeutig und klar erkennbar.“ Laut Jung hätten die beiden Grünen-Politiker immer wieder zu ihm geschaut, auch habe es Blickkontakt gegeben. „Es war unmöglich, mich nicht wahrzunehmen. Ich hatte den Eindruck, daß es Herrn Kretschmann genau darum ging, dieses Statement zu plazieren und ihm die Kamera in dem Moment sehr gelegen kam. Er wollte sich von dem Beschluß, ab 2030 keine Autos mit Verbrennungsmotoren mehr zuzulassen, distanzieren. Das war ihm wichtig“, schilderte Jung den Vorgang. Daß die Grünen über das Video nicht gerade erfreut sind, kann Jung nachvollziehen. „Es kratzt eben an dem wohl gehegten Eindruck der großen Einigkeit in der Partei.“ Das sei aber nicht seine Schuld, schließlich habe er das Statement nur aufgenommen, verantwortlich dafür sei aber Kretschmann. 

Auch der Hamburger Journalistikprofessor Volker Lilienthal hält die Skandalisierung für wenig gerechtfertigt: „Kann es auf einem öffentlichen Parteitag ein nicht-öffentliches Gespräch geben?“ fragte er im Deutschlandfunk rhetorisch. „Es war bestimmt kein privates Gespräch.“

Das komplette Video im Internet: goo.gl/UELX3P