© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/17 / 30. Juni 2017

Die Kanzlerin buchstabiert ihr Land
Nationale Eigenschaften: Eine Erwiderung auf Angela Merkels Deutschland-ABC
Karlheinz Weißmann

Frau Merkel möchte uns das ABC beibringen, das ABC des Deutsch-Seins. Das ABC ist etwas für ABC-Schützen. Und die Kanzlerin sieht sich von politischen Grundschülern umgeben, denen sie die basics vermitteln muß. Deshalb steht das „A“ des Deutsch-Seins gleich gar nicht für etwas spezifisch Deutsches, sondern für etwas Universales. Solches Ausgreifen könnte man auch als typische Nationaleigenschaft betrachten, aber dazu später.

Jedenfalls fängt Frau Merkel mit Artikel 1 des Grundgesetzes an, dem Urdogma der geltenden Zivilreligion, dem von der unantastbaren Würde des Menschen. Die immer wieder zu betonen, ist wichtig. Denn die Aussage selbst läßt sich weder empirisch überprüfen, noch unmittelbar plausibel machen.

Tatsächlich wird die Würde aller möglichen Menschen in allen möglichen Weltgegenden permanent angetastet, ohne daß die Regierung oder die Behörden, die auf Artikel 1 GG verpflichtet sind, irgend etwas dagegen unternehmen. Zudem leuchtet, nachdem man sich Gottes entledigt hat (obwohl der in der Präambel des Grundgesetzes ausdrücklich angerufen wird), gar nicht mehr ein, warum denn dem arrivierten Affen als solchem Würde zukommt und nicht auch den übrigen Spezies, von der Bettwanze bis zum Weißen Hai.

Angela Merkel ahnt vielleicht, daß es da eine offene Flanke gibt, und erwähnt in ihrer Aufzählung deshalb unter „C“ sicherheitshalber die christliche Tradition (außerdem die Lutherbibel unter „L“ und die Reformation unter „R“), aber nicht ohne pflichtgemäßem Hinweis auf das jüdische Element. Merkwürdigerweise fehlt bei dem Buchstaben „I“ das Stichwort Islam, was etwas befremdet, da wir doch von höchster Stelle längst mit dem Gedanken vertraut gemacht sind, daß das Land zu seinem Glück bald mehr Minarette haben wird. Man muß aber nur bis zu „M“ weitergehen, um auf Muslime zu treffen und auch auf den Migrationshintergrund.

Ansonsten gibt es noch ein paar bemüht originelle Stichworte – Behindertensport, dichte Fenster, Jahreszeiten (ernsthaft: Jahreszeiten), öffentlicher Nahverkehr, Pflaumenkuchen, Windrad – und als eine Art Bodensatz dessen, was traditionell die Deutschheit ausmachte, Sekundärtugenden und deren Folgen: Made in Germany, Qualitätsarbeit, Soziale Marktwirtschaft, Tierschutz, Umweltschutz, Vollkornbrot, Wirtschaftswunder.

Das ist aber auch schon das Äußerste an Stimulation des kollektiven Selbstbewußtseins. Zwar bleibt uns der Lafontainsche Hinweis erspart, daß man mit Ordnung und Pünktlichkeit auch ein KZ leiten könne, aber deshalb wird doch nicht auf die übliche Dosis negativer Nationalismus verzichtet: in Gestalt der Stichworte „immerwährende Verantwortung Deutschlands für den Holocaust“ und „Sicherheit des Staates Israel ist Staatsräson“.

Ganz am Ende, unter „Z“, findet man noch „Zusammenhalt“. Der wird in amtlichen Verlautbarungen neuerdings rituell beschworen. Aber je intensiver die Beschwörung, desto skeptischer der Beobachter. Denn wer es für nötig hält, immer wieder und mit Nachdruck auf die Notwendigkeit des Zusammenhalts und den Kampf gegen die „Spalter“ hinzuweisen, der zeigt vor allem, in welch dramatischem Tempo der Zusammenhalt schwindet.

Deshalb auch die wachsende Zahl flankierender Maßnahmen, um Abhilfe zu schaffen. Von der schwarz-rot-goldenen Dekoration der CDU-Plakate für die Parlamentswahl bis zum Einfall der Bundesverteidigungsministerin, die neue „Narrative“ in Umlauf bringen möchte.

Frau von der Leyen hat zwar kein ABC kreiert, aber schon umrissen, wie sie sich eine solche Großerzählung vorstellt: als eine Art bundesrepublikanischen Geschichtsmythos, der alles mit der Stunde Null beginnen läßt, als das Böse überwunden ward, woraufhin der glänzende und ununterbrochene Aufstieg des freiesten Staates deutscher Geschichte begann, die deshalb erst siebzig Jahre jung ist und ihr Happy End notwendig in der glänzenden Gegenwart findet. Aber ob das genügt, den gewünschten Gemeinsinn zu erzeugen?

Denn auch solcher Mythos setzt Glaubensbereitschaft voraus, wie Artikel 1 GG, und die wird permanent erschüttert, wenn man schon beim Schritt vor die Tür erkennt, wie wenig „Wir“ noch vorhanden ist. Die in Merkels ABC auch auftauchende Vielfalt unter „V“ zersetzt eben das, was über Jahrhunderte zusammengewachsen ist und schließlich für die Deutschen Heimat – unter „H“ – im weiteren Sinn bedeutete. Diesen Prozeß hat die Politische Klasse zu verantworten. Das weiß sie sehr genau und tut deshalb alles, um abzulenken, fordert uns dreist auf, den Blick nach vorn zu richten und keinesfalls zurück in eine Vergangenheit, die das hervorbrachte, was das Deutsche war. Also etwa:

A Adler, Antideutsche, Auftragstaktik

B Bauhaus, Bismarck, Blauäugigkeit

C Canossa, Castel del Monte, Choral 

von Leuthen

D Dackel, DM, Dritter Weg

E Ehr is Dwang gnog, Eisernes Kreuz, 

Prinz Eugen

F Faust, FKK, die Freiheit wozu

G Gemütlichkeit, Germanien,

Brüder Grimm

H Hagen, Hegel, Hölderlin

I Idealismus, Kategorischer Imperativ, 

Innerlichkeit

J Jahn, JU 52, Jugendbewegung

K Konservative Revolution, Kreidefelsen, Kyffhäuser

L Langemarck, das Leben ist der 

Güter höchstes nicht, Loreley

M Mittellage, Mozart, Mystik

N Neuschwanstein, Nullacht-

fünfzehn

O Orden, Organisation, Ostsehnsucht

P Parzival, Porsche, Preußen

Q Queste

R Reichsgedanke, Riesling, Romantik

S die Sache an sich, Sehnsucht nach 

Etzels Halle, Steckrüben

T Tannenberg, Treue, 

Tiefe

U Übersetzung, Umfas-

sungsschlacht, Untreue

V Vater Rhein, Versailles, 

Volkslied

W Weltbürgertum, 

Widukind, Winnetou

Z Also sprach Zarathustra, Zieten aus dem 

Busch, 20. Juli 1944

Nachbemerkung: Gerade unterhielt ich mich mit der Dame, von der ich für ein paar Sommerwochen ein Cottage in Sussex gemietet habe. Es ging um den Brexit. Sie fragte, ob wir Deutsche noch darüber diskutierten, ob wir es für ein wichtiges Thema hielten. Ich verneinte. Es sei nichts, was die breite Mehrheit wirklich interessiere. Sie wiegte bedenklich den Kopf und sagte dann: „Warum soll es euch auch interessieren. Bei uns haben Leute eine Entscheidung getroffen, die völlig ahnungslos sind. Sie kennen nichts anderes als das Vereinigte Königreich. Wenn sie ins Ausland reisen, dann nur in unsere ‘Kolonien’ auf Malta oder in Marbella, wo sie sich in die Sonne legen. Und damit sind sie ganz zufrieden. Der Engländer ist borniert. Wir machen es uns zu leicht.“

Kein Widerspruch. Umgekehrt gilt, daß zum Deutsch-Sein auch gehört, nie ganz zufrieden zu sein, die Welt zu kennen und es nicht leicht mit sich selbst zu haben.