© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/17 / 30. Juni 2017

Der Chor rettet den Abend
Regietheater: Tschaikowskys „Pique Dame“ an der Stuttgarter Staatsoper
Axel Michael Sallowsky

Die experimentierfreudige Stuttgarter Staatsoper ist dafür bekannt, immer wieder mit ebenso sensationellen wie provokativen Inszenierungen auf sich aufmerksam zu machen. Dort nun hatte kürzlich Tschaikowskys nur selten aufgeführte Oper „Pique Dame“ in der Originalsprache Premiere. 

Regie in dieser Neuinszenierung führten Jossi Wieler und Sergio Morabito, beide in Stuttgart sehr beliebt und gleichermaßen heftig umstritten. Wer sich nicht 45 Minuten vor Premierenbeginn zur Einführung im Foyer eingefunden oder sich anderweitig informiert hatte, dem wurde das Ärgernis zuteil, während des dreieinhalbstündigen Spektakels nichts von all dem zu verstehen, was sich auf der Bühne abspielte. Mit dem Werk hatte es jedenfalls nicht sehr viel zu tun. Als wäre es die heiligste Aufgabe der Theatermacher, das Publikum auf Teufel komm raus zu irritieren, dürfte es selbst profunden Kennern dieser Tschaikowsky-Oper schwergefallen sein, in dieser Inszenierung einen Handlungsfaden zu entdecken. 

Längst gehört es zum „avantgardistischen Habitus“ zorniger Regisseure, mit Vorliebe all das zu zerstören, was sie selbst zu erschaffen nicht in der Lage sind. Also können sie sich schadlos halten an Mozart, Verdi, Wagner, an Richard Strauss und an der gesamten dramatischen und kompositorischen Elite aus mehreren Jahrhunderten. So also auch an Tschaikowsky, wie in der Stuttgarter „Pique Dame“-Produktion zu sehen.

Die Handlung: German, ein junger mittelloser Offizier (gesungen von Erin Caves) verliebt sich in Lisa (überzeugend in Rolle und Gesang: Rebecca von Lipinski), die mit einem reichen Adligen verlobt und das Enkelkind einer seltsamen Gräfin ist (Helene Schneiderman, schauspielerisch und gesanglich das Glanzlicht des Abends). 

Als German erfährt, daß Lisas Großmutter über das Geheimnis dreier ewig gewinnbringender Spielkarten verfügt, beschließt er, der Gräfin dieses Geheimnis zu entreißen, notfalls mit Gewalt. Als die Gräfin sich weigert, ihm die Karten zu nennen, bedroht er sie mit seiner Pistole. Vor Schreck fällt die Gräfin tot um. In diesem Augenblick stürzt Lisa in das Gemach und muß glauben, daß German der Mörder ihrer Großmutter ist und sich ihr nur deshalb genähert habe, um an das Geheimnis der drei Karten zu gelangen. 

Die Handlung in die Gegenwart verschoben

Im nächsten Akt erscheint die Gräfin German im Traum und verrät ihm die drei Karten: Drei, Sieben und Pik As. Mit diesem Wissen eilt German, dem Spielrausch verfallen und dem Wahnsinn nahe, in den Spielsalon, setzt die ersten beiden Karten ein (Riesengewinne). Keiner will noch weiter gegen ihn setzen. Nur Lisas Verlobter Jeletzki (Shigeo Ishino, souverän in Gesang und Gestaltung) ist dazu bereit. Lisa selbst hat sich unterdessen in die kalten Fluten der Neva gestürzt. German setzt siegessicher auf die dritte Karte. Es ist Pique Dame. Er hätte Pik As nehmen müssen. Vor Seelenpein und Selbstverachtung ersticht German sich.

Angesiedelt ist diese Handlung nach einer gleichnamigen Puschkin-Novelle um 1800. Das Stuttgarter Regie-Gespann hat sie nun in die Gegenwart verschoben – und sie mit diesem Zeitsprung von über zweihundert Jahren ihres Geistes und ihrer Seele beraubt. Aus adligen Salons sind schmutzige, heruntergekommene Hinterhöfe, Treppenstiegen und Kaschemmen geworden, aus blaublütigen Damen grell geschminkte Prostituierte und aus den Herren Säufer, Punks, Zuhälter und Hurenböcke in heutigen Gewändern. Doch diese Übertragung in die Jetztzeit funktioniert hier nicht. Der Versuch, sozial- und gesellschaftskritische und/oder moralische Vorstellungen von einst mit heutigen zu vergleichen, kann nicht überzeugen. Heraus kam eine Klamauk-Oper, in welcher der Ur-Geist der „Pique Dame“ nur schemenhaft auftaucht. Da hilft auch das Programmheft nicht, es verwirrt in seiner Fülle von Analysen und Interpretationen eher, als es das Regie-Konzept zu erhellen vermag.  

Blieb noch die Musik. Sie war bestens aufgehoben in den Händen zweier Männer, die hauptsächlich dazu beigetragen haben, daß dieser Opernabend nicht ausschließlich als totales Ärgernis endete. Daß es zum Schluß sogar begeisternden Beifall gab, verdankte die Premiere vor allem dem Dirigenten Sylvain Cambreling und dem Chor. Cambreling entlockte dem gut aufgelegten Staatsorchester mit sensibler Hand die so typischen sanft-weichen Tschaikowsky-Klänge, in denen die russische Seele voll zur Entfaltung kommt. Zudem wußte der Maestro zur rechten Zeit auch die Dramatik und tragische Dimension dieser Oper ebenso überzeugend klangschön zu formen.

Die zweite und vielleicht sogar stabilste Säule in dieser Neuinszenierung waren der grandiose Opernchor und der Kinderchor unter der Leitung von Johannes Knecht. Da vermeinte man tatsächlich das alte Rußland so zart, so traurig und auch so leidenschaftlich zu hören, daß man beinahe alle Mängel in dieser Produktion vergessen konnte. 

Die nächsten „Pique Dame“-Vorstellungen an der Staatsoper Stuttgart, Oberer Schloßgarten 6, finden statt am 1., 6. und 24. Juli, danach wieder im September und Oktober. Kartentelefon: 07 11 / 20 20 90

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