© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/17 / 30. Juni 2017

Die Knechtschaft der Staatenlosen
Der italienische Marxist Domenico Losurdo über linke Trugbilder einer zivilen Weltgemeinschaft
Eberhard Straub

Schon der preußische Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel erinnerte vor bald zweihundert Jahren daran, daß nicht mehr viel Mut dazu gehöre, Regierungen anzugreifen, sondern sie zu verteidigen. Mittlerweile sind die Regierungen selber damit beschäftigt, den Eindruck zu erwecken, ohne die Hilfe organisierter gesellschaftlicher Kräfte gar nicht mehr ihren Aufgaben gewachsen zu sein. Der schwache und phantasielose Staat behauptet, auf die spontane Lebendigkeit vieler Gruppen innerhalb der sogenannten Zivilgesellschaft angewiesen zu sein. 

Diese kommt, da der Staat nur eine Hilfskonstruktion ist, ohne cives aus, also ohne Staatsbürger, und ohne die civitas, eine Rechtsordnung. Zur Zivilgesellschaft schließen sich Menschen zusammen, die sich aus irgendwelchen Gründen länger oder vorübergehend im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhalten. Sie entbehrt jeden konkreten Inhalt und kann deswegen als Ideal einer künftigen staatsfreien Welt ohne soziale Konflikte und nationale Gegensätze ununterbrochen in der weiten Wertegemeinschaft des Westens beschworen werden. Mögliche Mißverständnisse werden liebenswürdig im Dialog beseitigt, bei dem sich jeder bemüht, den anderen zu verstehen und von ihm zu lernen.  

Solche ideologischen Gemütsergötzlichkeiten fordern den Witz und den Widerspruchsgeist des temperamentvollen Hegelianers, Marxisten und Kommunisten Domenico Losurdo heraus. In seiner Studie zum historisch-politischen Verständnis des Klassenkampfes und seiner Wiederkehr polemisiert er kräftig gegen die verspielten Träumereien von einer unpolitischen Weltordnung am Ende der Geschichte, in der alle Feinde zu Freunden werden und frohgemut an ihrem Büschel Wohlstand knabbern. 

Diesem historisch ungemein gebildeten Philosophen – mittlerweile eine Seltenheit – ist es vollkommen unverständlich, worin der Fortschritt liegen soll, wenn der Staat in der Zivilgesellschaft aufgehe. Denn ohne einen starken Staat gibt es überhaupt keine gesellschaftliche Ordnung. Die Gesellschaft, indessen nur noch ein lockerer Haufen von Einzelgängern, kann auf den disziplinierenden und strukturierenden Staat gar nicht verzichten, will sie nicht in den Kampf aller gegen alle ausarten. Die Gesellschaft ist unfähig, aus sich heraus die sozialen Gegensätze zu überwinden. Jeder Fortschritt in diese Richtung wurde einer meist widerspenstigen Gesellschaft vom Staate gewiesen. 

Domenico Losurdo erinnert eindringlich daran, daß es ein großer Irrtum sei, Marx und Engels zu unterstellen, sie hätten im Verschwinden des Staates und seiner Eroberung durch gesellschaftliche Gruppen das Ziel der Geschichte erhofft. In diesem Punkt haben auch sogenannte Linke beides nicht verstanden. Marx und Engels brauchten Staat und Nation, weil beide die Voraussetzung für eine soziale, ökonomische und politische Befreiung bildeten. Nur in einem Staat  konnte es zur Freiheit aller als Staatsbürger kommen. Denn der Sozialstaat, der Rechtsstaat oder Kulturstaat ergänzen einander. Sie geraten in Gefahr, sobald sie sich vom zivilisierenden Staat entfernen und sich in Kultur- oder Wertegemeinschaften verwandeln. 

Im Sinne Hegels kann kein Volk frei sein, das ein anderes unterdrückt. „So bin ich wahrhaft frei nur dann, wenn auch der andere frei ist und von mir als frei anerkannt wird.“ Eine Hegung der inneren Klassenkämpfe kann nicht gelingen, solange fremdbestimmten Völkern die Selbständigkeit verwehrt ist – wie etwa den Iren oder Polen – und sie von ihren Nachbarn nicht als freie, gleichberechtigte Nation behandelt werden, in deren innere Angelegenheiten keiner intervenieren kann. 

Die konkreten Klassenkämpfe bedürfen daher des Staates und der Nation. Es gibt eben nicht nur den Kampf der Armen gegen die Reichen, es gibt auch die Kämpfe der Reichen untereinander, der in sich gespaltenen Bourgeoisie, die anderen Klassengenossen, befangen im Konkurrenzneid, aber auch als Staats- und Nationalfeind bekämpfen, weil dessen Vorteil ihm Nachteile verschafft. 

Der Sozialismus hat ohne die Nation keine Aussicht

Die Klassenkämpfe beschränken sich nicht auf die inneren Unausgewogenheiten. Staaten wie Spanien, Portugal oder Argentinien und Mexiko gerieten unter Vormundschaft stärkerer Mächte, die gar nicht an deren politischer, wirtschaftlicher und kultureller Unabhängigkeit interessiert sein konnten. Ein britischer Arbeiter kannte keine Solidarität mit den ausgebeuteten und in Aufständen liquidierten Indern, weil sein erreichter Wohlstand auf der Fremdherrschaft beruht. Kurzum Marx und Engels ziehen auch die Nation und die Staatlichkeit in ihre Vorstellungen der Klassenkämpfe mit ein, die damals schon als Weltwirtschaftskriege geführt werden konnten. 

In diesem Sinn hat der Sozialismus ohne die Nation keine Aussicht, auch nur schrittweise voranzukommen. Für den alten Engels galt es als selbstverständlich, daß sich die deutschen Sozialdemokraten in einem Krieg gegen ein verbündetes Frankreich und Rußland als wehrhafte Patrioten erweisen würden, weil die einige Nation der Raum ist, in dem die Klassengegensätze abgeschwächt werden können. Eine starke deutsche Nation ist für ihn aber auch das Unterpfand für die Freiheit und Bewegungsfreiheit nicht nur sämtlicher Deutscher, sondern auch vieler Europäer. 

Die Verbesserung des Sozialstaates muß hintangestellt werden, sobald die nationale Existenz bedroht ist. Lenin und Stalin wußten, daß es erst einmal darauf ankam, den Staat Rußland stark zu machen, auch und gerade militärisch, um den eigenen Weg in den Sozialismus vor Interventionen aus dem Ausland zu bewahren. Das hieß, daß soziale Ansprüche vorerst vernachlässigt werden mußten, da ohne militärische Macht die Sowjetunion gar nicht in der Lage gewesen wäre, sich zu behaupten. 

Eine ohnmächtige oder schwache Sowjetunion konnte der Weltrevolution nichts nutzen, die als politische Absicht deshalb in den Hintergrund abgeschoben wurde. Die Stabilität der Nation war das praktische Ziel, um dann den Aufbau eines nationalen Sozialismus vorantreiben zu können. Ähnlich verhalten sich Chinesen. Für Mao war der Volkskrieg und politische Befreiungskrieg unmittelbar mit der sozialen Frage und deren nationalen Lösung verbunden. Ein internationales Zusammenwirken ist nur möglich, wenn jede Nation Herr im eigenen Haus ist. Das vermutete Karl Kauts-ky schon 1882. 

Die Vielfalt der Völker und Staaten bot allerdings auch der beste Schutz vor der Vereinheitlichung der Welt durch einen imperialen Vormund, der das Pluriversum in ein Universum zusammenzwingen möchte. Da brechen nun neue Klassenkämpfe aus zwischen den armen, unterentwickelten und den durchaus entwickelten, doch politisch und militärisch nur bedingt abwehrbereiten Staaten mit dem Westen, der Nato, mit einer aggressiven Wertegemeinschaft. 

Diese nimmt sich das Recht, überall zu intervenieren, um die gesamte Welt mit Waffen und wirtschaftlicher Gewalt missionarisch zu durchdringen und sich zu ihrem Vorteil unterzuordnen. Der freie Markt, die freie Wirtschaft und der von ihnen eroberte Staat sind eminent politische Kräfte, die sich im eklatanten Widerspruch zu ihrer Ideologie gegen Feinde richten. Wir befinden uns weltweit in heftigen sozialen, ökonomischen und politischen Klassenkämpfen. Karl Marx, Friedrich Engels und viele ihrer Schüler können, wie Domenico Losurdo überzeugend nachweist, bei der historischen und politischen Analyse hilfreich sein.