© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/17 / 30. Juni 2017

Wenig Hoffnung auf gemeinsame Identität
Zugriff auf Hegel: Preußens Staatsphilosoph als Brüsseler Vordenker
Dirk Glaser

Die Agonie des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zog sich hin, aber im letalen Stadium ging es dann holterdipolter. Die Friedensschlüsse von Campoformio (1797), Lunéville (1801) und Amiens (1802) besiegelten das Desaster des bewaffneten Versuchs der preußisch-österreichischen und der Reichstruppen, die Französische Revolution einzudämmen. Der frischgebackene Jenaer Privatdozent Georg Wilhelm Friedrich Hegel stellte seine Fragmente einer „Kritik der Verfassung Deutschlands“ im Sommer 1801 daher illusionslos unter das Motto: „Deutschland ist kein Staat mehr“. Wie sich erweisen sollte: ein passender Grabspruch auf das im August 1806, als Franz II. auf die deutsche Kaiserkrone verzichtete, aufgelöste Reich.

Der an der Universität Granada als Deutschlehrer tätige Politologe Peter Ehret leitet mit dem vielzitierten Hegel-Wort seine Studie über „Die Krise des nationalstaatlichen Konzepts in der Europäischen Union“ ein (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1/2017). Weil er Parallelen zwischen der damaligen Konstellation und dem aktuellen Diskurs über den Prozeß der europäischen Integration zu entdecken glaubt. Denn neben dem Versagen beim Schutz der Außengrenzen und dem Finanzdesaster ist es die institutionelle Krise der EU, die an die Situation des paralysierten Reiches vor über 200 Jahren erinnert, da das supranationale Brüsseler Gebilde rechtlich ähnlich schwer zu klassifizieren sei wie einst die konstitutionelle Anarchie des zur Freude seiner Feinde und Nachbarn dezentralisierten Deutschlands. „Kritischen Stimmen“ zufolge hätten die einzelnen Länder mit ihrer EU-Eingliederung sogar aufgehört, Staaten zu sein, weil sie zentrale Bereiche ihrer Souveränität an Brüssel übertragen hätten und ihre politischen Repräsentanten, von der eigenen Wählerschaft abgekoppelt, im demokratischen Vakuum agierten.

Nicht also, wie es fälschlich in Ehrets Überschrift heißt, die Nationalstaaten, die sich auf das Brüsseler Abenteuer eingelassen haben und nun demokratische Defizite beklagen, sondern eher die EU steckt in einer veritablen Legitimationskrise. Und weil es nicht so enden soll wie 1806, bietet der Friedens- und Konfliktforscher Ehret mit einem Rekurs auf Hegel Hilfe an.  

Der preußische Staatsphilosoph, den er hier, Zitate munter mischend, zum Prediger postnationaler Demokratie und Vorläufer von Jürgen Habermas zurechtstutzt, habe in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1821) den Staat vom ethnisch-kulturellem Fundament getrennt. Betrachtete sein Berliner Amtsvorgänger Johann Gottlieb Fichte den Staat noch lediglich als Instrument seiner realen Basis, des Volkes, kreiere Hegel ihn als abstrakten Raum des Rechts, in dem sich juristische Subjekte, „Menschen als Menschen“ begegnen. Daß es freilich so simpel beim großen Theoretiker der kapitalistischen Gesellschaft und Gegner des westlichen Liberalismus nicht zugeht, hätte Ehret schon den wenigen Zeilen des Paragraphen 238 der „Rechtsphilosophie“ entnehmen können, die darlegen, wie aus dem konkreten „Sohn seiner Eltern“ das abstrakte Rechtssubjekt „Sohn der Gesellschaft“ wird, die das Individuum aus traditionellen Bindungen „befreit“, um es mit „ungeheurer Macht“ der „Verwertung der Sachenwelt“ zu unterwerfen, wie es der Hegelianer Karl Marx formuliert.    

Die Nation bleibt ein „attraktives Konzept“ 

Hegels Staat, wie ihn Ehret als Patentlösung für die postnationale EU konstruiert, öffne sich in idealer Weise – da selbst unbelastet von kultureller Identität – als Rechtsraum für „kulturelle Vielfalt“. Leider werde der europäische Nationalstaat, immerhin die unbestritten höchste Organisationsleistung menschlicher Zivilisation,  solchen steilen multikulturalistischen Ansprüchen nicht gerecht, die Ehret im engen Anschluß an die angelsächsischen Nationalismus-Theoretiker Kurt W. Deutsch und Anthony Smith geltend macht. Deutsch und Smith erklären den homogenen Nationalstaat der Europäer für historisch überholt, weil er die für Einwanderungsnationen typischen „Spannungen zwischen verschiedenen Identitäten“ – die ihn bis zum Ende des 20. Jahrhunderts übrigens selten existentiell bedrohten – nicht aushalten könne.

Großes Zutrauen zur Integrationskraft seines mit Hegels Autorität gedeckten reinen Rechtsraums hat Ehret angesichts des Zustands der EU nicht. Denn die Nation, so fürchtet er, werde mit ihrem kulturellen Kern, der sich auf natürliche Weise um eine Sprachgemeinschaft herum entwickele, ein „attraktives Konzept“ bleiben. In der Sprache etabliere sich das spezifische Bewußtsein des rationalen Kollektivs,  dessen Sitten und Gebräuche den Individuen sogar ihre erste Erfahrung mit „universellen Werten“ vermitteln. Ein Aufgehen nationaler Identitäten in europäischer Identität sei daher aufgrund zu vieler Lebensbezüge, auf welche das nationale Paradigma zurückgreifen könne, „sehr unwahrscheinlich“. „Tatsächlich besteht wenig Hoffnung, daß eine europäische Identität mittelfristig die vorhandenen nationalen (und subnationalen) Identitäten ersetzen wird.“

„Wenig“ bedeutet für Ehret aber nicht „gar keine“ Hoffnung. Nach Jürgen Habermas verfügten die seit 1945 im Westen und nach 1989 im Osten entstandenen „neuen Verfassungsstaaten“ nicht mehr über das „Pathos“ der ehemaligen Nationalstaaten. Soweit sie sich als Verfassungsstaaten verstehen, die die unantastbare Würde des individuellen Menschen zum obersten Prinzip erheben, „haben sie wenigstens in ihren rechtlichen Dimensionen aufgehört, Nationalstaaten zu sein“. Damit seien sie reif für die institutionelle Integration über die Nation hinweg im „gemeinsamen europäischen Rechtsraum“.