© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/17 / 30. Juni 2017

Was für Schutt?
In den vergangenen Jahren mehren sich die Versuche, die Trümmerfrauen als Mythos zu dekonstruieren
Stefan Scheil

Johann Wolfgang von Goethe wird der schöne Vergleich zugeschrieben, es sei bei logischen Schlußfolgerungen so wie mit dem Zuknöpfen einer Jacke: Hat man einmal am falschen Knopfloch angefangen, nutzt jede noch so akribische Fortsetzung nichts. Das Ergebnis bleibt schief.

Die Knopfleiste des bundesdeutschen Zeitgeschichtsbewußtseins beginnt heutzutage überwiegend mit der merkwürdigen Doppelannahme, es sei das Jahr 1945 erstens eine Befreiung gewesen und zweitens seien alle damals lebenden Deutschen zuvor irgendwie kollektiv schuldig geworden. Also darf es keine positiven Geschichten über sie geben, lautet eine der gegenwärtig regelmäßig gezogenen Konsequenzen.

Zu den Opfern dieser vergleichsweise neuen oder jedenfalls in letzter Zeit erheblich radikalisierten Entwicklung zählen die deutschen „Trümmerfrauen“ der Nachkriegszeit. Jahrzehntelang herrschte der durch eigene Generationserfahrungen und gesunden Menschenverstand gestützte und richtige Gesamteindruck vor, viele Frauen in Deutschland hätten in den 1945 übriggebliebenen Schutthaufen kräftig angepackt. Es bestand eine Notsituation der besonderen Art. 

Die Männer waren zu Millionen gefallen und zu weiteren Millionen noch jahrelang in Kriegsgefangenschaft. So gab es schon deshalb kaum eine andere Möglichkeit, sollte es im Land wieder aufwärtsgehen. Aber zudem stellte dies eine Frage von Moral und Lebenswillen dar, und deshalb fiel die Antwort keineswegs selbstverständlich aus, unter dem Eindruck der Katastrophe nicht zusammenzubrechen, sondern eben aufzustehen. 

Keine zentrale Regelung der Aufräumungsarbeiten

Die Umstände waren außergewöhnlich düster. Auch in den westlichen Besatzungszonen rauschten etwa die Verpflegungssätze nach Kriegsende zunächst einmal ungebremst in den Keller. Teilweise wurden der Zivilbevölkerung im Jahr 1945 durch die Besatzungsmacht selbst in Baden nur noch mörderische sechshundert Kalorien pro Tag zugestanden. Die Säuglingssterblichkeit näherte sich unter diesen Bedingungen der Marke von fünfzig Prozent, das Leben in Deutschland zwischen 1945 und 1947 war überall eine blanke Existenzfrage. 

Dessen ungeachtet gingen die kommunalen Behörden daran, die Beseitigung der Kriegsschäden zu organisieren. Es ging um viele Millionen Tonnen Schutt; die genaue Menge konnte nur geschätzt werden, belief sich aber unumstritten auf einen dreistelligen Millionenbetrag. Was das Gesamtvolumen pro Stadt anging, so war das heftig umkämpfte Berlin zur Hauptstadt des Schutts geworden, allerdings relativ dicht gefolgt und – wie berechnet wurde – nach Schuttmenge pro Kopf unter anderem übertroffen vom kleineren Dresden. So gehörten denn auch diese beiden Städte zu jenen, in denen Frauen besonders zum „Räumen“ von Bauschutt im engen Sinn des Wortes eingesetzt wurden. Aus Berlin stammt der dafür geschaffene Begriff „Trümmerfrau“, der bald nach Kriegsende aufkam. Ob ihn der Berliner Volksmund oder der Journalismus kreiert hat, läßt sich nicht zweifelsfrei nachweisen.

Eine zentrale Regelung der Aufräumungsarbeiten gab es im Deutschland der verschiedenen Besatzungszonen nicht. Aufrufe zum freiwilligen Dienst, Verpflichtung von Arbeitslosen, Strafdienst für NSDAP-Mitglieder oder Zwangsarbeit für bessere Lebensmittelkarten wechselten je nach der lokalen Situation ab. In der sowjetischen Besatzungszone konnte es vorkommen, daß die Rote Armee vorüberfahrende Straßenbahnen anhielt und die gesamten Mitfahrer vom Fleck weg zwangsverpflichtete.

Das bedeutete eine Form von Knochenarbeit, zu der in Friedenszeiten keine Frauen eingesetzt wurden und bis heute auch nicht werden. Man müsse das positiv sehen, meinte das Magazin Die Frau von heute im Mai 1946 und brachte die Trümmerfrau als typischen Fall mit einer Zeichnung auf die Titelseite, in der die abgebildeten Frauen mitten in Staub und Steinen auch einen gewissen Chic bewahrt hatten. 

Natürlicherweise griff man jedoch sobald wie möglich auf Maschinen für diese schwere Arbeit zurück. Teilweise wurden neue Techniken wie die Ziegelputzmaschine entwickelt, denn es galt schließlich nicht nur, Schutt zu entfernen, sondern ihn teilweise auch wiederzuverwenden. Das tat der Anerkennung für die Leistung der Trümmerfrauen aber keinen Abbruch. Bundesrepublik und DDR traten zu Beginn der 1950er Jahre geradezu in einen Wettbewerb in dieser Sache ein. Im Osten galt die Trümmerfrau als dauerhaftes Vorbild für den sozialistischen Aufbau, im Westen sah man sie als tapfere Meisterin einer schwierigen Lage, die sich bloß nicht wiederholen solle. Beide Seiten stellten Denkmale für Trümmerfrauen auf, auch Bundesverdienstkreuze wurden verliehen. Man nahm, um im vorangestellten Bild zu bleiben, jeweils das erste Knopfloch.

Nun wäre die vereinte Bundesrepublik heutzutage nicht das allseits bekannte, intellektuell verwirrte Gebilde, würden sich nicht auch in dieser Frage neue Stimmen melden, die das alles anders sehen und besser wissen wollen. Die Rolle der Trümmerfrauen werde überschätzt, kommt zum Beispiel 2014 die Sozialistorikerin Leonie Treber in ihrer Dissertation an der Universität Duisburg-Essen auf den Punkt („Mythos Trümmerfrau. Von der Trümmerbeseitigung in der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Entstehung eines deutschen Erinnerungsortes“, Essen 2014). 

Mythos sei in den achtziger Jahren angefacht worden

Vielerorts hätten sowjetische Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge die Trümmer bereits geräumt. In welcher Quantität diese Zwangsarbeit erfolgte, tatsächliche Beispiele aus dem 1942 zerstörten Lübeck oder Hamburg 1943 waren meist mit dem Abriß ausgeglühter Häusergiebel oder dem Räumen wichtiger Verkehrswege beschränkt, verrät Trebers Studie allerdings mangelhaft.

Sie sei in weiten Teilen das Produkt von Propaganda und ein Nebeneffekt bundesdeutscher Rentendiskussionen oder der Initiative der Partei „Graue Panther“ aus den 1980ern. Es habe sie überhaupt nicht überall in Deutschland gegeben. Und wo die Trümmerfrauen doch aktiv gewesen seien, dann seien sie überwiegend „belastet“ gewesen, soll bedeuten NS-belastet, also: zu Recht zum Aufräumen verdonnert und nicht denkmalwürdig. „Natürlich waren auch Frauen Teil des Systems gewesen und in unterschiedlicher Weise verstrickt, sei es jetzt, daß sie auch Mitläuferinnen waren, daß Frauen auch Täterinnen waren, und daß eben auch Frauen in irgendeiner Weise im Nationalsozialismus gelebt und gewirkt haben“, zieht Treber ein Fazit ihres Buches, das vom Deutschlandfunk über Welt und Süddeutsche Zeitung zum Teil euphorisch besprochen wurde. In der Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte der Wochenzeitung Das Parlament, die von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird, werden Trebers Thesen dann beinahe offiziöse Weihen verabreicht, obwohl man zugesteht, daß das Thema Enttrümmerung in Deutschland ein weitgehendes Forschungsdesiderat darstelle. Im gleichen Sinne wie Treber, daß den bei der Enttrümmung eingesetzten „Tätern“ kein Denkmal gebühre, verhüllten zuvor in München die grünen Landtagsabgeordneten Katharina Schulze, heute Fraktionsvorsitzende im Bayerischen Landtag, und der Landesvorsitzende Sepp Dürr 2013 das Trümmerfrauen-Denkmal mit einem braunen Sack, der die Losung trug: „Den Richtigen ein Denkmal. Nicht den Alt-Nazis“. Seitdem flammt immer wieder der von Linken und Grünen forcierte Streit auf, inwieweit der „Mythos Trümmerfrau“ endlich entzaubert gehört.

Filmaufnahmen seien in der Regel gestellt gewesen

Wie es bei zeitgeschichtlichen Themen außerdem regelmäßig zu sein pflegt, wird die Debatte von abstrusen Argumentationen durchzogen. So weisen die Kritiker der angeblichen Trümmerfrauen-„Legende“ darauf hin, daß etwa auf den Filmaufnahmen zum Thema häufig die Spuren von Inszenierungen zu sehen seien. Die beim Aufräumen gefilmten Frauen hätten Anweisungen erhalten, wo und wie genau sie stehen und sich zu bewegen hätten. In dem im April 2017 von der ARD ausgestrahlten Film „Mythos Trümmerfrau“ versucht der Dokumentarfilmer Christopher Weber in seiner „kritischen Würdigung dieser Gründungslegende“ genau dieses Bild wachzurufen: Alles nur gestellt!

Dies als Beweis einer anlaßlos gestellten Szene heranzuziehen, wird jedoch zum einen die Erkenntnis verkraften müssen, daß kein Kameramann und kein Pressefotograf bei einem Bildbericht über jedes noch so reale Ereignis darauf verzichten wird, die aufgenommene Szene mitzugestalten. Zudem: Es mag etwa das legendäre Bild sogar vollständig gestellt worden sein, auf dem ein Soldat der Roten Armee 1945 die Sowjetflagge auf dem Reichstag hißt. Wer daraus schließt, Berlin sei gar nicht erobert worden, liegt trotzdem falsch. 

An der Alltagserscheinung schutt-räumender Frauen nach 1945 bestehen keine überzeugenden Zweifel. Erstaunlicherweise wird den Trümmerfrauen heute auch ihre Sorge für das Existentielle vorgeworfen. Sie hätten gar nicht aus Idealismus oder Altruismus gearbeitet, steht zu lesen, sondern aus Zwang, für Geld und für bessere Lebensmittelrationen. Dies ist dann endgültig die Perspektive der bundesdeutschen Supermarktgesellschaft. Nur wer die freie Entscheidung hat, ob er sich gleich fürs Studium einschreibt oder eine Weile um die Welt reist und sich trotz dieser Möglichkeiten dann doch für ein freiwilliges soziales Jahr entscheidet, der handelt aus dieser Sicht demnach moralisch anerkennenswert. Wir wollen nicht spekulieren, welcher Kommentar Goethe zu diesem gutsituierten Fehlschluß eingefallen wäre.