© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/17 / 30. Juni 2017

Der Flaneur
Hat doch noch Sinn
Bernd Rademacher

Ein typischer Autobahn-Rastplatz an der A45: Die Brummilenker pennen in ihren Fahrerkabinen, Familien packen Proviant aus, Autos halten kurz, und die Insassen hetzen zur Toilette. Der vorbeirasende Fahrzeugstrom wirbelt Regenschleier auf, das gleichmäßige Rauschen der Autos übertönt fast alles. Ich warte auf meine Frau, die sich einen Pappbecher-Kaffee „to go“ holen will.

Seit dieser Nahtod-erfahrung fährt er jede Woche zu seiner Unfallstelle.

Da fällt er mir auf: Ein weißbärtiger Kerl in signalgelber Warnjacke mit silbernen Reflektorstreifen zwängt sich durch die Reihen der parkenden Wagen, spricht Leute an und verteilt kleine gelbe Heftchen. Macht der ADAC hier Reklame? Scheinbar hat er nicht viel Glück, die meisten Angesprochenen winken ab. Jetzt dreht er mir den Rücken zu – auf seiner Jacke steht „Autobahn-Mission“.

Ich spreche ihn an, frage, was er da verteilt. Er überreicht mir einen gefalteten Zettel mit Bibelworten und Gebeten. Auf dem Titel ist das Bild eines Mahnkreuzes für ein Verkehrsopfer am Straßenrand. Darüber steht: „Die gelbe Karte“. Dann erzählt er mir seine Geschichte: Er sei früher Handelsvertreter gewesen und ein notorischer Raser. Vor 14 Jahren habe er bei Tempo 200 unweit des Rasthofes hinterm Steuer einen Schlaganfall erlitten und war von einer Sekunde zur anderen halbseitig gelähmt. Sein rechter Arm sei bei voller Fahrt wie tot vom Lenkrad gerutscht.

Seine nächste Erinnerung war eine Stimme, die sagte: „Das hat keinen Sinn mehr mit dem.“ Die Klinikärzte hatten ihn aufgegeben. Seit dieser Nahtoderfahrung mit dramatischer Rettung fährt er jede Woche aus dem Rothaargebirge zu diesem Parkplatz an seiner Unfallstelle.

Meine Frau kommt mit ihrem Kaffeebecher zurück. Ich verabschiede mich und steige wieder ein. Sie fragt: „Wer war das?“ Ich erzähle ihr die Geschichte, die mich selbst kurz grübeln läßt. Sie: „Dann fahr nicht so schnell.“