© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/17 / 07. Juli 2017

„Dann ziehen wir in den Krieg“
Venezuela: Mit politischen Winkelzügen versucht die sozialistische Regierung Maduro, der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen
Billy Six

Noch ist die Pforte nach Caracas nicht verschlossen ... auch wenn einige internationale Fluggesellschaften wie die Lufthansa (nach 45 Jahren) ihre Verbindungen in die venezolanische Hauptstadt bereits eingestellt haben zuletzt auch United Airlines vor wenigen Tagen. Seit dem 13. Mai herrscht offiziell Ausnahmezustand im einstigen Geheimtip für Rucksack-Touristen. Das südamerikanische Land am Karibischen Meer ist neben Naturwundern und Tropenfrüchten aller Art Eigner der weltgrößten (Schwer-)Ölreserven, der meisten „Miss World“-Titel und eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, der sich momentan in einer veritablen Staats- und Versorgungskrise befindet. 

Die weltgrößte Inflation steigert den Unmut 

Mit US-Dollars in der Hand läßt es sich derweil per Schwarzmarktumtausch günstig (über-)leben, denn man kann die meisten Waren in freien Supermärkten erwerben. Überaus kritisch ist es für die große Masse der 31 Millionen Venezolaner: Ihre Einkünfte wurden durch die aktuell weltgrößte Inflation aufgezehrt. In den vergangenen fünf Jahren verlor die Landeswährung „Starker Bolivar“ 99,8 Prozent ihres Wertes. Der IWF geht davon aus, daß die aktuelle Geldentwertung von 720 Prozent bis Jahresende auf über 2.000 Prozent ansteigen wird. 

So sollte die 100-Bolivar-Banknote (ca. ein Cent) bereits im Dezember ihre Gültigkeit verlieren – doch der sozialistischen Regierung unter Nicolás Maduro gelingt die Durchsetzung bis heute nicht. Subventionierte Lebensmittel und Bargeld sind schwer zu bekommen. Ab und an sind größere Menschenansammlungen vor Geschäften oder Banken zu sehen. Im Landesinnern kommt es derweil vermehrt zu Plünderungen. 

Das noch in den siebziger Jahren reichste Land Lateinamerikas durchläuft einen Prozeß zunehmender Verarmung – Menschen, die sich aus dem Müll ernähren, sind dafür Sinnbild geworden. Unter den Sozialisten ist die Abhängigkeit der Wirtschaft von der (bereits seit 1976 staatseigenen) Ölförderung auf 95 Prozent angestiegen. Eine reine Ölrentenökonomie, abhängig von lebenswichtigen Importen. Mangelnde Wartung der Anlagen, unfähiges Personal und zuletzt der Preisverfall haben die dringend nötigen Devisenquellen jedoch versiegen lassen.

Die Misere zeitigt dramatische politische Folgen: Seit April bläst eine (Straßen-)Opposition zum Angriff auf die Regierung unter Maduro, einem ehemaligen Busfahrer und Nachfolger des linken Volkstribuns Hugo Chavez, der das aktuelle System 1998/99 nach seinem Wahlsieg begründete und 2013 verstarb.

Zuvor hatte das Verfassungsgericht im Streit um die Legitimität einzelner Abgeordneter das Parlament für entmachtet erklärt – ein Schritt, der wenig später rückgängig gemacht wurde. Seit dem Erdrutschsieg der bürgerlichen Opposition bei den Kongreßwahlen vom Dezember 2015 befinden sich Legislative und Exekutive in einem offenen Schlagabtausch. Ein Patt im Staat. 

Doch trotz der schon damals schwelenden Krise hatte die regierende PSUV immerhin noch 40,9  Prozent der Stimmen auf sich vereinigen können. Mit einer 540köpfigen verfassungsgebenden Versammlung („Constituyente“), besetzt mit Freunden der „Bolivarischen Revolution“, will der Präsident nun am Abgeordnetenhaus vorbei die Staatsstruktur grundlegend wandeln.

Propagandistisch ein genialer Schachzug. Die spontanen Aufmärsche der Opposition generieren seitdem nur noch bis zu 10.000 Teilnehmern. Der Straßenkampf in der Hauptstadt spielt sich dabei fast ausschließlich im Osten, im eher bürgerlichen Chacao-Viertel, ab – der Westen und die umliegenden Armenviertel (Barrios) halten sich bislang zurück. 

Helikopterangriff sorgt für Verwirrung

Der regelmäßige Blockademarsch zur Autobahn gestaltet sich dabei stets friedlich – im Anschluß attackiert eine Speerspitze die Luftwaffenbasis La Carlota mit Steinen und Brandsätzen. Tränengas und Schüsse der Nationalgarde sind die Folge. Eine Straßenjagd beginnt. Die jungen Kämpfer, Männer wie Frauen, betonen, „gegen einen Diktator“ und „die Hoffnungslosigkeit“ anzukämpfen. 

In der internationalen Presse hat seitdem ein zynisches Opferzählen eingesetzt, das den Druck auf die Regierung verstärkt: 89 Menschen haben demnach im Zusammenhang mit den Protesten landesweit bereits ihr Leben gelassen – die meisten davon junge Regierungsgegner. Allerdings sind auch vier Polizisten, acht Plünderer und ein Lynchmord darunter. Dabei fällt unter den Tisch, daß jährlich 24.000 Morde in Venezuela geschehen – und in der Regel ungesühnt bleiben. Ausgerechnet Generalstaatsanwältin Luisa Ortega, eine bekennende Chavista-Frau, führt die „Märtyrerstatistik“. Sie sieht ihren Präsidenten auf Abwegen – und soll nun ihrerseits abgesetzt werden.

Das Durcheinander wurde zuletzt nur noch vom Angriff eines gekaperten Polizeihubschraubers auf das Verfassungsgericht übertroffen – eine symbolische Aktion ohne Opfer. Der verantwortliche Kommandant hatte via Video auf Instagram zu einem Putsch aufgerufen. Über die Hintergründe herrscht Rätselraten. Als wahrscheinlich gilt, daß es sich um eine Inszenierung handelte, um der Regierung Legitimität zu härterem Durchgreifen zu verleihen. Andere sehen erste Absetzbewegungen im Sicherheitsapparat. Das Militär ist Maduros zentrale Stütze. 

Das war im April 2002 noch völlig anders: Der frühere Generalstab hatte damals einen Putsch der alten Eliten aus Politik und Wirtschaft gegen „Revolutionsführer“ Chavez durchgesetzt. Doch auf Druck der Straße gab „Übergangspräsident“ Pedro Carmona bereits nach 36 Stunden wieder auf. Der Industrielle, der heute im US-Exil lebt, konnte nicht in die Rolle eines venezolanischen Pinochet hineinwachsen. Die Mordschützen der 19 Todesopfer, je zur Hälfte aus beiden demonstrierenden Lagern, die Anlaß für den Staatsstreich waren, wurden nie ermittelt.

Heute gehen auf den Straßen von Caracas nicht wenige davon aus, daß es hier problemlos möglich wäre, Verbrecher zu rekrutieren, um ein Massaker an der Opposition zu inszenieren. Viele jener jungen Leute, die sich aktuell noch zurückhalten, sagen klipp und klar: „Wenn die Regierung plötzlich viele, viele Leute von uns umbringt, denken wir nicht mehr weiter nach. Dann ziehen wir in den Krieg.“