© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/17 / 07. Juli 2017

Dem Staat die Sezession erklärt
Frankreich: Macron ist der neue starke Mann, doch in Wahrheit bleibt das Land instabil
Alain de Benoist

Emmanuel Macrons Weigerung, sich innerhalb des Rechts-Links-Musters zu positionieren, hat sich in doppelter Hinsicht als fulminanter Erfolg erwiesen: Ohne Rückhalt in einer der traditionellen Parteien, dafür mit Unterstützung „progressiver“ und liberaler Kräfte von beiden Seiten des klassischen politischen Spektrums, gelang es ihm innerhalb weniger Jahre, aus der politischen Unbekanntheit ins höchste Amt des Staates aufzusteigen. Und nebenbei sorgte er noch dafür, daß von der alten politischen Führungsriege (Sarkozy, Juppé, Fillon, Hollande, Hamon und wie sie alle heißen) so gut wie niemand übriggeblieben ist.

Fast noch beeindruckender als sein  Erdrutschsieg bei der Parlamentswahl im Juni ist allerdings der Erdrutsch der Erneuerung, den er ausgelöst hat. Die Mitglieder der neuen Regierung sind der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, und die große Mehrzahl der neuen, genauso unbekannten Abgeordneten bringt keine politische Erfahrung mit. 

Eine derartige Erneuerung hat die Fünfte Republik noch nie erlebt: 430 neue Gesichter unter den insgesamt 577 Abgeordneten der Nationalversammlung, ein Sinken des Durchschnittsalters von 54 auf 48 Jahre, Anstieg des Frauenanteils von 155 auf 224 (rund vierzig Prozent). In dieser Hinsicht ist der Amtsantritt Macrons – man kann es nicht anders sagen – ein historisches Ereignis. 

Die größten Verluste haben dabei die beiden bisherigen großen Regierungsparteien erlitten. Den Sozialisten blieben gerade einmal 29 ihrer 295 Sitze – und Jean-Luc Mélenchons linksradikale Bewegung „France Insoumise“ (Unbeugsames Frankreich) macht kein Hehl aus ihrer Ambition, ihnen auch noch diese kläglichen Überreste streitig zu machen. Die klassischen Konservativen, die Republikaner, zerfransen sich in zwei oder drei verschiedene Strömungen, die teils mit der Mehrheitsfraktion des Präsidenten zusammenarbeiten, teils in Opposition zu ihr gehen wollen. Die beiden Großparteien, die sich über Jahrzehnte hinweg an der Regierung abgewechselt haben, stehen für die alte Spaltung Frankreichs in links und rechts.

Für viele haben „links“ und „rechts“ keine Bedeutung

Das wohl markanteste Ergebnis der (vor der Parlamentswahl stattgefundenen) Präsidentschaftswahl im Mai war die Erkenntnis, daß in ihrer zweiten Runde mit Macron und Marine Le Pen zwei Kandidaten standen, die sich beide außerhalb dieser Kategorien positionierten. Umfragen zufolge haben die Begriffe „rechts“ und „links“ für 75 Prozent der Franzosen keine große Bedeutung. 

Kurzfristig verfolgt Macron das Ziel, sämtliche Kräfte auszuschalten oder an sich zu binden, die bislang noch den politischen Raum besetzen, der seine  Bewegung La République en Marche (Die Republik in Bewegung) von „France Insoumise“ auf der einen und dem Front National auf der anderen Seite trennt: den „rechten“ Flügel der Sozialisten ebenso wie den „linken“ der Republikaner. Insofern sind seine Hoffnungen nicht allzuweit von denen Marine Le Pens und Jean-Luc Mélenchons entfernt.

Indes hat die Umwälzung der politischen Landschaft auch den Front National in Mitleidenschaft gezogen. Trotz der elf Millionen Wähler, die ihr in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 34 Prozent der abgegebenen Stimmen einbrachten, hat Marine Le Pen viele Parteifreunde enttäuscht: nicht nur mit ihrem alles andere als überzeugenden Wahlkampf, sondern vor allem mit ihrem blamablen Auftritt beim Fernsehduell gegen Macron – bei dem sie zugleich inkompetent und unnötig aggressiv wirkte.

In den kommenden Monaten darf man sich auf einige schwere interne Grabenkämpfe gefaßt machen. Dabei stehen sich im wesentlichen zwei Fronten gegenüber: jene, die den Aufbau einer neuen „großen Rechtspartei“ fordern, und jene, die den bisherigen FN-Kurs als populistische Partei jenseits von rechts und links beibehalten wollen. 

Besonders heftige Kritik trifft FN-Vizechef Florian Philippot. Die Befürworter eines harten Rechtsrucks werfen ihm vor, im Wahlkampf die Einwanderung nicht ausreichend thematisiert zu haben. Der katholische Parteiflügel behauptet, er betreibe eine „Schwulenlobby“ an der Parteispitze (zwei der acht neuen Abgeordneten des FN in der Nationalversammlung sind homosexuell). Die wirtschaftsliberalen Kräfte machen ihn für ein „zu stark linksgerichtetes“ wirtschaftspolitisches Programm verantwortlich. 

Macron entwickelt einen autokratischen Führungsstil

Gleichzeitig beginnt sich der Macronsche Stil herauszukristallisieren, ein autokratischer Führungsstil, der ihn grundlegend von François Hollande unterscheidet. Mehrere frisch ernannte Minister mußten bereits nach wenigen Wochen wieder ihren Hut nehmen. Im Wahlkampf stellte er Kandidaten und Kandidatinnen auf, die nicht von der Parteibasis, sondern ähnlich wie bei einem Privatunternehmen von einem Komitee ausgewählt wurden. Diese neuen Abgeordneten, die sich allesamt durch politische Unerfahrenheit auszeichnen, werden so abstimmen, wie er es von ihnen erwartet – angefangen mit der von der Europäischen Kommission und den Arbeitgeberverbänden geforderten Reform des Arbeitsrechts. Wenn das Parlament künftig nur noch zur Absegnung der Vorlagen aus dem Elysée-Palast dienen soll, drängt sich die Frage auf, ob als erster Schritt auf dem Weg der vielbeschworenen Erneuerung etwa die Neutralisierung der Legislative geplant ist. 

Bei der Parlamentswahl im Juni erreichte die Wahlenthaltung einen Rekordstand (51 Prozent in der ersten Runde, 57,4 Prozent in der zweiten). Diese Zahlen zeugen sicherlich von einem durchaus verständlichen Überdruß am Ende einer endlosen Wahlperiode, womöglich gar von Fatalismus und dem Gefühl, das Ergebnis stehe sowieso im voraus fest. Richtig ist aber auch, daß die Wahlenthaltung nicht alle gesellschaftlichen Milieus gleichermaßen betrifft. Insofern lohnt es sich zu fragen, welche Teile der Bevölkerung sich im einzelnen enthalten haben. Auf diese Frage gibt es eine eindeutige Antwort: Am höchsten war die Enthaltung in den unteren Schichten, am niedrigsten in der Oberschicht. 

Die Analyse, mit den neuen En Marche-Abgeordneten sei die „Zivilgesellschaft“ ins Parlament eingezogen, greift dabei zu kurz. Die große Mehrzahl der Neuankömmlinge sind Angehörige der freien Berufe und der gesellschaftlichen Oberschicht. Die untere Mittelschicht, von der Arbeiterklasse ganz zu schweigen, ist schlicht abwesend. Macrons liberaler Block ist ein „bürgerlicher“ Block, wie die Ökonomen Bruno Amable und Stefano Palombari durchaus richtig festgestellt haben. 

Der Populismus wird erst mal nicht an Kraft verlieren

Damit bleibt die gesellschaftliche Basis von République en Marche äußerst fragil. In der Nationalversammlung stellen Macrons Abgeordnete eine absolute Mehrheit (306 von 577 Sitzen); landesweit jedoch repräsentieren sie gerade einmal 16 Prozent der eingetragenen Wähler. Macrons „Bloc central“ mag im Parlament eine politische Mehrheit haben – gesellschaftlich bilden seine Mitglieder eine Minderheit. Zählt man die Enthaltungen, die „weißen“ (knapp drei Prozent) und die entwerteten Wahlzettel (gut ein Prozent) zusammen, dann kann man ohne Übertreibung feststellen, daß eine Mehrheit der Franzosen dem Staat die Sezession erklärt hat. 

Konkret bedeutet dies, daß der Populismus seine Zugkraft so schnell nicht verlieren wird, da sich seine Dynamik aus der gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Lage speist. Der populistische Bruch zieht sich gleichermaßen durch sämtliche politischen Strömungen. Die aktuelle Situation ist gesellschaftlich unhaltbar. Wenn die Gesellschaftsschichten, die politisch, kulturell und intellektuell unterrepräsentiert sind, sich Sorgen um ihre Identität machen (75 Prozent der Franzosen glauben, daß ihre Identität bedroht ist), dann deswegen, weil dieses immaterielle Erbe alles ist, was ihnen noch bleibt. 






Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften „Nouvelle École“ und „Krisis“.