© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/17 / 07. Juli 2017

Das Ende der Gemütlichkeit
Die skandinavischen Länder haben den Multikulturalismus früher als der Rest Europas zur Staatsräson erklärt – und suchen jetzt verzweifelt nach der Notbremse
Michael Paulwitz

Wohlfahrtsstaat, Hygge-Gemütlichkeit und „Volksheim“, internationales Engagement und humanitäre Weltenretter-Pose – damit haben sich die skandinavischen Länder immer gerne identifizieren lassen. Schon in den siebziger Jahren erhoben sozialdemokratische Regierungen in Schweden, Dänemark und Norwegen den Multikulturalismus zur Staatsräson und öffneten großzügig die Tore für außereuropäische Einwanderer, Asylbewerber und mehr oder minder echte Flüchtlinge, ohne noch auf deren Assimilation in die Mehrheitsgesellschaft zu bestehen. 

Den Takt hatte der spätere langjährige schwedische Ministerpräsident Olof Palme vor mehr als einem halben Jahrhundert vorgegeben. In einer Weihnachts-Radioansprache an die Auslandsschweden von 1965 stilisierte Palme, damals noch Verkehrsminister und politischer Ziehsohn des sozialdemokratischen Nachkriegsregierungschefs Tage Erlander, die Durchmischung der schwedischen Gesellschaft zur „Überlebensfrage“.

Das war die Grundlage für die ideologische Einwanderungspolitik, die Palme zielstrebig umsetzte, nachdem er die Nachfolge des von 1946 bis 1969 regierenden Erlander angetreten hatte. Der hatte noch vier Jahre zuvor, im Jahr von Palmes Multikulturalismus-Manifest, die „nicht nur vom Aspekt der Rasse her gesehen“ homogene Bevölkerung Schwedens als Glücksfall seines historischen Schicksals hervorgehoben.

Assimiliation als Konsens wurde aufgegeben

Palme – Ministerpräsident von 1969 bis 1976 und erneut von 1982 bis zu seiner Ermordung im Februar 1986 – räumte damit zügig auf. Zu den ersten Maßnahmen seiner Regierung gehörte die Einrichtung einer staatlichen Einwandererbehörde, „Statens invandrerwerk“, Vorgänger des heutigen „Migrationsverket“, nach dessen Statistiken zwischen 1980 und 2012 mehr als 1,6 Millionen Ausländern ein Aufenthaltsrecht in Schweden zuerkannt wurde. 

Schweden, im 19. Jahrhundert ein klassisches Auswanderungsland, hatte schon seit dem Zweiten Weltkrieg verstärkt Einwanderer aufgenommen. Meist handelte es sich um Arbeitsmigranten aus Ost- und Südeuropa sowie der Türkei, die anfangs tatsächlich einen Beitrag zur Anhebung von Produktivität und Wohlstand in Schweden geleistet haben. Gegen Kriegsende wurden 25.000 Esten und politische Emigranten aus dem wieder sowjetisch besetzten Baltikum aufgenommen, nach dem Ungarnaufstand 1956 weitere antikommunistische Emigranten. 

Der Konsens, daß Einwanderer sich in Sitten, Sprache und Verhalten im national homogenen Schweden zu assimilieren hätten, wurde in den sechziger Jahren zunehmend in Frage gestellt. Bereits 1968 wurde das „Gleichheitsprinzip“ gesetzlich verankert, das auch Einwanderern gleichen Lebensstandard wie Einheimischen verspricht, vollen Zugang zu den Sozialsystemen eingeschlossen. Einwanderer sollten zudem Sprache und Kultur des Herkunftslandes wahren können. 

1975 wurde die von Palme vollzogene multikulturelle Wende in der schwedischen Einwanderungspolitik in einem Reichtstagsbeschluß zusammengefaßt und unter die nach wie vor geltenden Prinzipien „Gleichheit, Wahlfreiheit und Zusammenwirken“ gestellt. Zugleich erhielten Einwanderer in Schweden gesetzlichen Anspruch auf Unterricht in der Heimatsprache an den Schulen und das Wahlrecht bei Gemeinderats- und Provinziallandtagswahlen – Vorbild für die von Grünen und Linken in Deutschland erhobene Dauerforderung nach einem Kommunalwahlrecht für Nicht-EU-Ausländer. Seit 2001 können sich volljährige Ausländer nach fünf Jahren einbürgern lassen, Staatenlose und anerkannte Flüchtlinge bereits nach drei bzw. vier Jahren. Mehrfachstaatsbürgerschaften werden seit 2001 ausnahmslos akzeptiert.

Unter Palme änderte sich nicht nur die Intensität der Einwanderung nach Schweden, sondern auch die Struktur. Die Arbeitsmigration aus Europa ebbte ab. Nach dem rezessionsbedingten Anwerbestopp von 1972/73 kehrten, ähnlich wie in Deutschland, zahlreiche europäische Gastarbeiter in ihre Heimatländer zurück, während der Zuzug aus der Türkei über die Familienzusammenführung weiterging. Dazu kamen verstärkt außereuropäische Flüchtlinge und Asylsuchende.

Das hatte ideologische Gründe. Für Palme, der sich auf der internationalen Bühne als Friedensaktivist profilierte und Militärdiktaturen und kriegerische Interventionen der Supermächte, vor allem der USA, unerbittlich kritisierte, war schwedische Einwanderungspolitik die Fortsetzung seiner humanitären Weltpolitik. Es gehe nicht an, daß die Schweden vor dem Fernseher die Schrecken internationaler Konflikte verfolgten, ohne etwas zu tun, hatte der Sozialdemokrat schon in seiner programmatischen Ansprache von 1965 gesagt; ein moralpolitisches Postulat, das auch aus aktuellen deutschen Diskursen nur zu bekannt vorkommt.

Zunächst wurden Emigranten aus Lateinamerika – Chile, später Nicaragua – großzügig aufgenommen, es folgten Kurden aus der Türkei und Iraner. In den Neunzigern kamen zahlreiche bosnische Kriegsflüchtlinge hinzu. Syrer, Afghanen und Nordafrikaner stellen heute einen Großteil der Asyl-Einwanderer nach Schweden, dem europäischen Asylzielland Nummer zwei nach Deutschland. Mehr als ein Zehntel der neuneinhalb Millionen Einwohner sind außereuropäischer Herkunft, unter ihnen Hunderttausende Araber, Afghanen und Afrikaner, fast dreißig Prozent der Bevölkerung haben einen „Migrationshintergrund“.

Was die multikulturelle Fragmentierung mit Schweden anrichten würde, war 1975 für die an maßvolle und anpassungswillige europäische Einwanderung gewöhnten Schweden vermutlich kaum vorstellbar. Eine öffentliche Debatte des Beschlusses, der Schweden umkrempeln sollte, fand schon damals kaum statt. 

Bis heute wird der Diskurs nicht frei geführt. Im Namen der „Gleichheit“ ist in Schweden ein striktes Regime der Politischen Korrektheit entstanden. Bereits 1986, im Todesjahr Palmes, wurde die Position eines Regierungs-„Ombudsmannes“ geschaffen, der über rassische und ethnische Diskriminierung zu wachen hat. Einwandererkrawalle, „No-go-Areas“ für Bürger und Polizisten in ganzen Vororten und Stadtteilen, islamische Parallelgesellschaften, die eskalierende Einwandererkriminalität und sexuelle Gewalt, bei der Schweden einen traurigen europäischen Spitzenplatz belegt, werden bis heute von Medien und etablierter Politik aus der offiziellen Berichterstattung und Statistik ausgeblendet oder nur bis zur Unkenntlichkeit gefiltert wahrgenommen. Wagt ein frustrierter Beamter oder Polizist den Tabubruch, begibt er sich in die Todeszone der „Rassismus“-Ächtung.

Nachhaltige multikulturelle Volkspädagogik in Schweden

Kuriert wird allenfalls an Symptomen, obwohl Staatsfinanzen und Sozialsysteme absehbar vor dem Kollaps stehen. Zwar haben striktere Regeln bei Asyl- und Familiennachzug den Asylansturm im vergangenen Jahr von 163.000 (2015) auf gut 20.000 gebremst. Der Glaube an staatliche Sozialarbeit und multikulturelle Volkspädagogik zur Umerziehung der Einheimischen als Allheilmittel für die bereits bestehenden Probleme ist dennoch ungebrochen. Was der Großbürgersproß Olof Palme angerichtet hat, müssen wie so oft die einfachen Leute ausbaden.

Die wachsende Zahl der Schweden, die eine andere Einwanderungspolitik wünschen, ist faktisch von der politischen Mitwirkung ausgeschlossen. Die schon 1979 entstandene Bewegung „Erhaltet Schweden schwedisch“ („Bevara Sverige svenskt“, BSS) landete wegen ihrer Diktion und einiger Akteure schnell in der rechtsextremen Schmuddelecke. 

Aber auch die nach Modernisierung und Mäßigungsprozessen aus ihr hervorgegangenen Schwedendemokraten haben bei den letzten Wahlen zwar 12,9 Prozent erreicht, werden aber vom Medien-Mainstream und allen anderen Parteien ausgegrenzt, obwohl sie in Umfragen mittlerweile bei 25 Prozent liegen. Wer sich offen zu der Partei bekennt, riskiert seinen Job.

Das ist ein markanter Unterschied zur Lage in den historisch mit Schweden eng verbundenen Nachbarstaaten Dänemark und Norwegen, die anfangs dem schwedischen Beispiel nachgeeifert hatten und sich dadurch ähnlichen Konfliktstoff ins Land geholt haben. Vom Ölreichtum sorglos gemacht, hatte auch Norwegen großzügig außereuropäische Asylbewerber und Einwanderer aufgenommen. Seit 2008 steigen die sexuellen Übergriffe afrikanischer und arabischer Einwanderer, die bereits damals sechs Prozent der Gesamtbevölkerung stellten, sprunghaft an. Wie in Schweden, konzentrieren sich die Probleme in den wenigen Großstädten. Die Hauptstadt Oslo beschrieben englischsprachige Reporter in einigen Stadtteilen als „marokkanischer als Marokko“. „Wir haben die Stadt verloren“, sagte schon 2013 ein Polizeisprecher über Oslo.

Im selben Jahr gelangte allerdings auch die „Fortschrittspartei“ gemeinsam mit den Konservativen an die Regierung. Die Folgen unkontrollierter Einwanderung und politisch korrekter Vertuschung begünstigten den Aufstieg der einwanderungskritischen Partei. Während König Harald im September vergangenen Jahres noch die alten Multikulti-Illusionen beschwor – „Norweger glauben an Gott, Allah, alles und nichts... Norweger sind auch aus Afghanistan, Pakistan und Polen, Schweden, Somalia und Syrien eingewandert“ – verschärft Einwanderungs- und Integrationsministerin Sylvi Listhaug von der Fortschrittspartei unter ausdrücklichem Verweis auf die Probleme, die „sehr liberale Länder wie Deutschland und Schweden“ sich eingehandelt haben, unablässig das Asylrecht, um außereuropäische Einwanderung zu begrenzen.

Im südlichen Nachbarland Dänemark steht die rechtsliberale Minderheitsregierung unter dem Druck der sie stützenden einwanderungskritischen Dänischen Volkspartei (DF), die bei den Wahlen 2015 ihre Mandate fast verdoppelte und zweitstärkste Kraft wurde. „Wir tun das Maximale, damit es nicht attraktiv ist, nach Dänemark zu kommen“, bekräftigte Migrationsministerin Inger Støjberg schon vor einem Jahr. Es gehe nicht nur um Geld, sondern darum, „das Dänemark zu bewahren, das wir kennen“.

Dänemark hat einen totalen Kurswechsel vollzogen

Noch 1984 hatte sich Dänemark unter dem Beifall der Vereinten Nationen eines der großzügigsten Aufnahmegesetze der Welt gegeben. Daraus wurde nach zahlreichen Novellierungen eines der schärfsten in Europa. Seit der unter dem Eindruck des islamischen Terrors abgehaltenen Parlamentswahl von 2001, nach der sie erstmals eine bürgerliche Minderheitsregierung tolerierte, treibt die DF, die wie die norwegische Fortschrittspartei aus einer Steuerprotestbewegung hervorgegangen ist, die dänische Politik vor sich her. Zur Ernüchterung der Dänen haben viele Faktoren beigetragen: die Einsicht, daß die hohen Kosten außereuropäischer Einwanderer, die rund acht Prozent der Bevölkerung stellen, den hochentwickelten dänischen Wohlfahrtsstaat zu sprengen drohen, Parallelgesellschaften und Integrationsverweigerung muslimischer Einwanderer, Kriminalität und Terrorgefahr – Themen, die in den dänischen Leitmedien zunehmend freimütig thematisiert wurden.

Schweden, das die Rolle der humanitären Großmacht in einem Wohlfahrtsstaat mit offenen Armen länger und forscher als die Nachbarn gespielt hat, ist früher an die Grenzen geraten, verweigert sich dagegen um so hartnäckiger der Wirklichkeit und geht damit inzwischen auch in Skandinavien einen Sonderweg, der fatale Parallelen zum Sonderweg der Bundesrepublik unter Angela Merkel in Europa aufweist.

„Wir hatten ein vollkommen gutes Land“, resigniert eine Journalistin. „Ein reiches Land, ein nettes Land, und in ein paar Jahren wird dieses Land weg sein.“ Schweden ist zum Paradigma eines an der Unvereinbarkeit von Wohlfahrtsstaat, Multikulturalismus und schrankenloser Einwanderung gescheiterten europäischen Staates geworden.