© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/17 / 07. Juli 2017

Auch die Demokratie braucht Grenzen
Die Politologin Ute Scheub präsentiert Rezepte, wie die Gesellschaft dem demokratischen Ideal näherrücken kann
Konrad Adam

Das Büchlein ist schmal, kaum mehr als hundert Seiten stark, trägt aber einen anspruchsvollen Titel. Es betrachtet die Demokratie nicht als etwas Vorhandenes, längst Bekanntes und Bewährtes, sondern als Auftrag, der erst noch zu erfüllen ist. 

Mit ihrem kurzen Text stellt sich die Verfasserin in eine anspruchsvolle Tradition. Es war Jean-Jacques Rousseau, der in seinem Traktat über den Gesellschaftsvertrag die Demokratie zum ersten Mal als etwas Unvollendetes beschrieben hatte. Wenn man das Wort in seiner ganzen Schärfe nehme, heißt es dort, habe es die wahre Demokratie noch nie gegeben, werde sie wohl auch niemals geben. Es gehe gegen die natürliche Ordnung der Welt, daß die Mehrheit regiert und die Minderheit beherrscht wird.

Um dieser Schwierigkeit zu entkommen, versuchte Rousseau, die Mehrheit mit der Einheit und die Einheit mit der Wahrheit zur Deckung zu bringen. Er erfand die Theorie vom Gemeinwillen, der „volontée générale“, die sich vom Mehrheitswillen dadurch unterscheiden sollte, daß sie die Einheit, den Konsens nicht nur behauptet, sondern garantiert. Die Minderheit, meinte Rousseau, habe sich getäuscht, sie müsse das einsehen und ihren Irrtum öffentlich bekennen. Von da war es dann nicht mehr weit zu dem, was seine Nachfolger die Tyrannei der Mehrheit genannt haben. 

Mit Bürgerbeteiligung gegen das Demokratiedefizit

Ute Scheub geht einen anderen Weg. Sie will dem Konsens dadurch etwas näher kommen, daß sie die Partizipation, die Wahlbeteiligung erhöht. Je mehr Bürger am öffentlichen Leben teilnehmen und Politik zu ihrer Sache machen, desto mehr von ihnen könnten annehmen, dem eigenen Gesetz zu folgen. Und eben das verlange Mitbestimmung. Auch dieser Wunsch begegnet Einwänden, die der Amerikaner Martin Seymour Lipset vorgetragen hat. Seine Untersuchungen laufen darauf hinaus, daß eine hohe Wahlbeteiligung genauso viel oder genauso wenig demokratische Legitimation verbürgt wie eine niedrige. Hitler hätte darauf verweisen können, daß die Gewinne seiner NSDAP mit einer zunehmenden Wahlbeteiligung einhergingen, während sich Macron mit einer Quote von gerade einmal 42 Prozent begnügen mußte: Was folgt daraus? Hoffentlich nicht allzuviel. Bestimmt aber keine übertriebenen Hoffnungen auf die Bedeutung hoher Quoten. 

Um das Dilemma aufzulösen, greift Ute Scheub auf die Ursprünge zurück, auf die attische Demokratie. Aber auch damit läßt sich die fatale Spannung zwischen viel und gut nicht vermeiden. Denn stimmberechtigt waren in Athen nur die freien Männer, und die waren deutlich in der Minderheit. Hörbar enttäuscht spricht die Verfasserin denn auch von einer höchst eingeschränkten Demokratie – bei höchster Partizipation allerdings. Denn die Athener, schreibt ein guter Kenner der Stadt, verbrachten ihren Tag damit, sich selbst zu regieren.

Die alte Frage, ob die Demokratie Eliten braucht und ob die Auswahl von Eliten nur in überschaubaren Verhältnissen gelingen kann, stellt sich immer wieder neu. Aristoteles meinte, daß eine Demokratie überhaupt nur dort möglich sei, wo jeder Bürger jeden kenne. Als das nicht länger denkbar war, erfand man die parlamentarische Demokratie mit Volksvertretung. Aber auch die hat die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreicht, wahrscheinlich sogar überschritten. 

Um weiterzukommen, setzt die Autorin auf mehr Bürgerbeteiligung und stellt dafür verschiedene Modelle vor: Zukunftsräte, Planungszellen, Bürgergutachten und dergleichen mehr. Dahinter wird als fernes Ideal die Referendumsdemokratie nach Schweizer Muster erkennbar. Vor diesem Panorama nimmt sich Ute Scheubs Werben für eine Demokratie ohne Grenzen überraschend aus. Denn bisher gibt es kein einziges Beispiel für eine funktionierende Demokratie jenseits der nationalen Grenzen.

Darüber würde man gern mit der Verfasserin ins Gespräch kommen. Aber das dürfte schwierig werden, denn am Ende kommt auch sie über das Freund-Feind-Verhältnis als Urgrund aller Politik nicht hinaus. Ute Scheubs Feinde sind die Rechten, die Populisten, die Rechtspopulisten. Ganz ohne Grenzen scheint also auch sie nicht auszukommen. 

Ute Scheub: Demokratie, die Unvollendete. Plädoyer für mehr Teilhabe. Oekom-Verlag, München 2017, broschiert, 110 Seiten, kein Preis, kann bei „Mehr Demokratie e.V.“ bestellt werden