© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/17 / 07. Juli 2017

Raubbau und Umweltzerstörung nehmen zu
In der aktuellen Krise offenbaren sich Kosten und Grenzen des brasilianischen Wachstumswunders
Christoph Keller

Das G20-Mitglied Brasilien ist mit einem Volumen von 18,4 Milliarden Euro größter Handelspartner in Südamerika und für die deutsche Wirtschaft wichtiger als Indien, Taiwan oder Südafrika. Die südlichen Bundesstaaten Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul waren Ziel Hundertausender deutscher Auswanderer. Seit 1822 Kaiserreich und seit 125 Jahren Republik, ist das Riesenreich mit 8,5 Millionen Quadratkilometern größer als Australien und mit 207 Millionen Einwohnern die neuntgrößte Volkswirtschaft der Erde.

Allein zwischen 2002 und 2014 verfünffachte sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf 2,4 Billionen Dollar. Brasilien hat seit der Jahrtausendwende einen märchenhaft anmutenden Aufstieg zu einer Führungsnation des globalen Südens erlebt. Dank des robusten Binnenmarkts überstand das Schwellenland auch die 2008 in den USA ausgelöste Weltfinanzkrise ohne ernste Blessuren.

Überbeanspruchung der Ökosystemleistungen

Doch 2015 sürzte das BIP auf 1,8 Billionen Dollar ab, die Statistik weist zwölf Millionen Arbeitslose aus. Der 2016 durch einen Korruptionsskandal initiierte Sturz des seit 2003 regierenden Mitte-Links-Bündnisses weitet sich zu einer Staatskrise aus. Der wirtschaftsliberale, aus einer libanesischen Familie stammende Ex-Vize- und jetzige Präsident Michel Temer steht seit Mai ebenfalls im Zentrum von Korruptionsermittlungen. Mindestens 2.000 auf Schmiergeldlisten von Konzernen stehende Politiker signalisieren das vorläufige Ende der brasilianischen Wachstumsgeschichte.

Allerdings sind Erschütterungen des politischen Systems lediglich Epiphänomene. Folgt man nämlich dem auf Südamerika konzentrierten Expertenwissen deutscher und österreichischer Geographen, wurzeln politische wie ökonomische Krise in der Überbeanspruchung der Ökosystemleistungen des Riesenlandes (Geographische Rundschau, 4/17). Auch Brasilien habe eben erfahren müssen, daß Natur dem Wachstum einer Volkswirtschaft Grenzen setze. Dabei richten die Geographen ihre Aufmerksamkeit gar nicht einmal auf das prominenteste Opfer neoliberaler Profitideologie – den tropischen Regenwald. Der habe zwar, wie der auf Klima- und Vegetationsgeographie spezialisierte Passauer Geographieprofessor Dieter Anhuf vorrechnet, in den letzten 50 Jahren fünfzehn Prozent seiner Fläche eingebüßt. Aber das nehme sich bescheiden aus gegen die 50 Prozent des Cerrado. 

Zur „Rettung“ dieses homogenen Naturraums, weltweit die artenreichste, etwa 900 Baumarten aufweisende bewaldete Savanne im Herzen des Landes, trat Greenpeace & Co. noch nie mit spektakulären Aktionen hervor. Angebracht wäre es jedoch, denn seit 1960, als dort die Hauptstadt Brasília entstand und ein epochales Infrastrukturprogramm, das Massen von Landsuchenden anlockte, ihnen den Cerrado erschloß, verkleinerte sich dieses Zentrum globaler Biodiversität von 3,5 Millionen auf 350.000 Quadratkilometer. Heute, so klagt Anhuf, sei der Cerrado eine „Spielwiese für die globalisierte, hochmechanisierte, kapitalintensive Landwirtschaft“. Das Gros brasilianischer Agrarexporte, Soja, Mais, Reis und Bohnen, werde jetzt auf ehemaligen Cerrado-Flächen erzeugt: „So wurde das einstmals – nach dem Amazonasbecken – zweitgrößte Biom Brasiliens großräumig in Agrarflächen, Weiden und künstliche Forsten verwandelt.“ 

Nicht günstiger für die Natur sieht es im benachbarten Südosten aus. Hier beobachten Leipziger Geographen um Jürgen Heinrich wie Nutzungsintensivierung, Landdegradation, Urbanisierung und Industrialisierung Hand in Hand gehen in einem Großraum, wo 42 Prozent der Bevölkerung Brasiliens um elf Prozent seines Territoriums konkurrieren. Kein Wunder, daß viel Land genutzt werden soll, das umweltbedingt ungeeignet ist. So befinden sich im Bundesstaat Rio de Janeiro 55 Prozent der Gesamtfläche in Weidenutzung, obwohl nur drei Prozent davon zu „Gunstlagen“ zählt, zu wenig erosionsanfälligen Böden mit guter Bewässerung. Alle anderen Weideflächen finden sich auf Hanglagen, die einem hohen Erosions- und Degradationsrisiko ausgesetzt sind, das infolge der vom Klimawandel forcierten Starkregenereignisse und länger anhaltender Dürreperioden zunehme.

Fatale Ausweitung „weidebasierter Produktion“

Neben der Überweidung fördert die übliche Praxis des maschinellen Pflügens senkrecht zur Hangkontur, zur Einsaat vorwiegend afrikanischer Weidegräser, den Bodenabtrag. Was stets zu Beginn der Regenzeit geschehe und „schwerwiegende Fernwirkungen“ auslöse wie die massive Sedimentation von Flußläufen und die Herabsetzung der Gewässerqualität. Um die Widerstandsfähigkeit dieser weidewirtschaftlichen Kulturlandschaft gegenüber solchen gravierenden anthropogenen Veränderungen aufrechtzuerhalten, „ist eine nachhaltige Umstellung notwendig“. Zumal angesichts agrarpolitischer Zukunftsprojekte, die bis 2040 eine Ausweitung „weidebasierter Produktion“ um 50 Prozent anpeilen.

Offensichtlich in dem Irrglauben befangen, das Wachstumskonzept kopieren zu können, das man zwischen 1975 und 2006 umsetzte. Auch damals war Weideland knapp, und die Fläche nahm nur um vier Prozent zu. Deshalb vermehrte man den Viehbestand um das Doppelte bis Dreifache. Heute, wo die Degradation an einem „sozio-ökologischen Wendepunkt“ angelangt sei, verbiete sich ein derartiges „Weidemanagement“.

Einen umweltpolitisch brisanten „Wendepunkt“ registrieren Florian Wittmann und Christian Damm (Aueninstitut Rastatt des Karlsruher Instituts für Technologie) auch im Nordwesten Brasiliens, in den Feuchtgebieten des Amazonasbeckens. Deren „spektakuläre Habitat- und Artenvielfalt“ sei akut bedroht durch Düngemittel und Pestizide, die viele Amazonaszuflüsse belasten. Brasilien behaupte nicht von ungefähr eine weltweite Spitzenposition im Verbrauch agrotoxischer Produkte. Hinzu kämen notorisch ungeklärte Haushalts- und Industrieabwässer, und neuerdings heizen Fischzucht- und Shrimp-Farmen die Eutrophierung an. Ergänzt werde das ökologische Schreckensszenario durch Übernutzung der meisten Wirtschaftsbaumarten und den Raubbau an den Speisefischbeständen. 

„Die vermutlich größte Gefahr für amazonische Feuchtgebietslebensräume“ gehe jedoch von einer dezidiert „grünen“ Strategie aus. Bis 2023 sollen 38 Staudämme im Amazonasbecken 12.500 Megawatt Strom erzeugen. Mit verheerenden Konsequenzen für das natürliche hydrologische Regime, für Fische und andere aquatische Organismen. Groteskerweise gelten Wasserkraftwerke in Brasilien immer noch als ideale „grüne Energiequelle“. Obwohl gerade dort bittere Erfahrungen mit schwacher Energieausbeute und hohen Verlusten auf dem Weg in die Tausende Kilometer entfernten Verbrauchszentren der Ostküste Planer eines Besseren belehrt haben sollten. Brasilien sei „ein Land im Griff des globalen Wandels“, dessen ohnehin „zweifelhafte Erfolgsgeschichte“ mit Sicherheit keine Fortsetzung finde, wenn man den Weg des „Wachstums um jeden Preis“, der in die Sackgasse von Ressourcenerschöpfung und Umweltzerstörung führe, nicht schnellstens verlasse.

Deutsch-Brasilianische Industrie-und Handelskammer: www.ahkbrasilien.com.br