© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/17 / 07. Juli 2017

Der Flaneur
Verkrampft in Liegeposition
Paul Leonhard

Vielen Dank, auch“, ruft mir der ältere Mann barsch hinterher, der mir gerade noch freundlich die Tür aufgehalten hatte. Dabei habe ich doch „danke“ gesagt. Aber er hat es wohl nicht gehört, weil ich offenbar zu leise gesprochen habe. Ich schaue mein Gesicht in einem Spiegel an, der in einem Schaufenster steht. Mein linker Mundwinkel hängt. Meine Zunge ist taub und ich lalle.

Die Spritze wirkt, meine Zunge wird taub. Das hat sie nun von ihrer neugierigen Tasterei.

Das habe ich schon bemerkt, als ich vor zehn Minuten noch tief in die grün und braun gesprenkelten Pupillen der jungen Frau geschaut habe, die sich über mich gebeugt hat. „Es ist gleich vorbei“, hat sie mindestens dreimal versprochen. 

Langsam verkrampfe ich in der Liegeposition. Was hatte sie gleich noch gesagt? Ach so: „Durch die Nase atmen.“ Ich konzentriere mich darauf und hätte mich fast verschluckt. Das ist blöd, wenn der Zahnarzt mit seinen Geräten im offenen Mund hantiert.

Mit nettem Lächeln hatte er mich begrüßt: Ob alles in Ordnung sei? Und obwohl ich treuherzig nicke, scheint es fast so, als ob er mir mißtraue. Dabei habe ich den Mund noch gar nicht geöffnet. Ich weiß, links unten fehlt ein Stückchen von einem Backenzahn. Deswegen habe ich ja überhaupt nur den Termin gemacht. Andererseits, wenn meine Zunge das Maleur nicht ertastet hätte, hätte ich es gar nicht bemerkt. Vielleicht bemerkt es der Arzt auch nicht und ich bin gleich wieder draußen.

Da prüft er schon Zähne und Zahnfleisch. Irgendwelche Zahlen raunt er seiner Assistentin zu. Ist eine „zwei“ schlecht oder gut, frage ich mich. Aber eigentlich will ich es gar nicht wissen, sondern so schnell wie möglich wieder raus. Schmerzfrei natürlich. Da faßt der Arzt schon seine Entdeckungen zusammen: „Alles in Ordnung, bis auf den Zahnstein und eine halb abgebrochene Plombe“. Ob er das gleich in Ordnung bringen soll? Ich nicke. Bloß kein neuer Termin. Ich kriege eine Betäubungsspritze. Meine Zunge wird taub. Das hat sie nun von ihrer neugierigen Tasterei.