© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/17 / 14. Juli 2017

Von Tugenden und Lastern
Literaturklassiker: Die Gefühlswelten der vor zweihundert Jahren verstorbenen englischen Schriftstellerin Jane Austen
Heinz-Joachim Müllenbrock

Als Jane Austen am 18. Juli 1817 starb, hatten ihre Romane erst eine verhältnismäßig geringe Resonanz gefunden. Heute stehen sie auf den Regalen der großen Buchhandelsketten und erfreuen sich einer weltweiten Aufmerksamkeit, zu der gelungene Verfilmungen mit Schauspielerinnen wie Keira Knightley in der Hauptrolle der Elizabeth Bennet in „Pride and Prejudice“ erheblich beigetragen haben. Der filmische Augenschmaus prächtiger Kostüme und herrschaftlicher Landsitze sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß dem Äußeren in diesen Romanen nur eine minimale Bedeutung zukommt. Jane Austens Welt ist nicht eine äußeren Glanzes, sondern innerer Werte. 

Schon von ihrer Biographie her kündigt sich eine Beschränkung auf ihr nächstes Umfeld an. Jane Austens Leben ist, wie die Handlung ihrer Romane, ereignislos. Die großen Zeitläufte – Französische Revolution, Kontinentalsperre, die Schlachten von Trafalgar und Waterloo – haben, wie auch die beginnende Industrialisierung und die gleichzeitige Landflucht, keinen literarischen Niederschlag gefunden. 

Ihr Blick war von Anfang an auf den eng umgrenzten sozialen Raum ihres eigenen Lebenskreises gerichtet. Jane Austens gesellschaftliches Milieu ist das der südenglischen Gentry, also des niederen Adels, und des mit diesem vielfach verschmolzenen gehobenen ländlichen Bürgertums, in das sie als Tochter eines wohlhabenden und gebildeten Landgeistlichen hineingeboren wurde. Ihre Heimat war und blieb die Grafschaft Hampshire, über die sie, abgesehen von kurzen Aufenthalten in Bath und London, nie hinausgekommen ist.

Beschränkung auf vertrauten Lebenskreis

Die bewußte Beschränkung auf den ihr vertrauten Lebenskreis zeigt sich auch in der Aussparung von Figuren des Volkes und Vertretern des Hochadels. Ihr minuziöses Studium des eigenen Milieus kommt in der sorgfältigen Schichtung der verschiedenen sozialen Gruppen zum Ausdruck – Soziogramm und Psychogramm greifen bei ihr ineinander. 

Das Äquivalent ihres selbstgenügsamen, quasi autarken sozialen Kosmos bildet ein ebenfalls klar umrissenes Wertgefüge, das sich insbesondere an der Moralphilosophie der Aufklärung orientiert. Man kann ihr Romanwerk unter dem Aspekt lesen, die Kultivierung des von Shaftesbury postulierten moral sense an ihrem Personal zu erproben. Bei Jane Austen werden die menschlichen Beziehungen an einem System von Tugenden und Lastern gemessen, deren psychologische Durchdringung den Einfluß von Autoren wie David Hume und Adam Smith erkennen läßt. Moralpsychologische Begriffe oder Begriffspaare setzen bereits im Titel einiger ihrer Romane charakteristische Akzente. 

In ihrem ersten Roman „Sense and Sensibility“ (1811) weist der Titel auf dessen antithetische Thematik voraus. Der Gegensatz von Vernunft und Gefühl wird durch die Schwestern Elinor und Marianne Dashwood verkörpert. Während Elinor unter der Trennung von Edward Ferrars leidet, aber in ihrer besonnenen, eben „vernünftigen“ Art versucht, mit dieser anfänglichen Enttäuschung fertig zu werden, läßt die empfindsame und schwärmerische Marianne ihrer Neigung zu dem ungewöhnlich gutaussehenden, eleganten und geistvollen Willoughby freien Lauf, den sie in Verkennung seines wahren Charakters idealisiert.

Die Töchter sollten standesgemäß heiraten

Gerade die auf dieses Paar gelenkte Aufmerksamkeit macht die pädagogischen Absichten der Autorin transparent. In der Enttäuschung Mariannes, die von Willoughby verlassen wird, weil dieser sich für eine Frau mit riesiger Mitgift entscheidet, spiegelt sich Jane Austens dezidierte Ablehnung der Romantik, die sie schon in ihrem Frühwerk „Northanger Abbey“ (1818) in Gestalt der dem falschen Zauber „gotischer“ Romane erliegenden Catherine Morland verspottet hatte. Romantischem Gefühlskult setzt sie ihr prosaisches, etwas provinziell anmutendes, aber psychologisch fundiertes Tugendkonzept entgegen. Das nach moralischem Verdienst penibel ausdifferenzierte Happy-End hat eine leicht engbrüstige Note. Während Elinor für ihr „vernünftiges“ Ausharren durch die doch noch zustande kommende Heirat mit Ferrars belohnt wird, sieht sich Marianne, die fast das Opfer eines gewissenlosen Verführers in der Manier eines Lovelace in Richardsons „Clarissa“ geworden wäre, gezwungen, eine Ehe mit dem nüchternen Colonel Brandon einzugehen – Korrektur des „Gefühls“ durch Desillusionierung. 

Die ganze Palette ihrer moralistisch ausgerichteten Erzählkunst entfaltet sich in „Pride and Prejudice“ (1813), ihrem nach allgemeiner Ansicht bedeutendsten und populärsten, Stolz und Vorurteil behandelnden Roman. Er beginnt mit dem amüsanten Satz: „Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, daß ein lediger Mann, der über ein ordentliches Vermögen verfügt, eine Ehefrau benötigen muß.“

Der epigrammatische Auftakt gibt den heiter-ironischen Ton an, der die Erzählhaltung prägt, und bezeichnet zugleich die sozialen Ambitionen der ländlichen Mittelschicht, bei der sich meistens alles um eine standesgemäße und vorteilhafte Heirat der Töchter dreht. Die Bennets – potztausend! – haben fünf Töchter, und Mrs. Bennet, die törichte, mit unerbittlichem Realismus gezeichnete Mutter, setzt alles daran, sie an den Mann zu bringen. 

In der Nachbarschaft tauchen zwei reiche junge Leute, Bingley und Darcy, auf. Während sich zwischen der ältesten Tochter Jane und Bingley ein Liebesverhältnis entspinnt, stehen sich der aufgrund seiner Lebensstellung zum Stolz neigende, von der Mutter und den oberflächlichen jüngeren Bennet-Töchtern Lydia und Kitty unangenehm berührte Darcy und die überkritische, in Vorurteilen befangene Elizabeth in einer Mischung von Anziehung und Ablehnung gegenüber. Nachdem Elizabeth, in ihrer Voreingenommenheit gegenüber Darcy zunächst durch die falschen Informationen des heuchlerischen jungen Offiziers Mr. Wickham bestätigt, Darcys Heiratsantrag stolz und entrüstet abgelehnt hat, kommt es nach einer ganzen Reihe von Mißverständnissen durch einen Brief Darcys, der auch seine diskrete Unterstützung des inzwischen durchgebrannten Paares Wickham und Lydia Bennet enthüllt, zur Überwindung aller inneren Widerstände und zur Heirat Elizabeths mit Darcy. 

Stilmittel der erlebten Rede

Der, wie immer bei Jane Austen, an äußeren Ereignissen arme Handlungsgang gewinnt Gewicht erst durch die an das klassische Drama erinnernde Verinnerlichung des Geschehens. So ergibt sich die wesentliche Handlung fast wie von selbst ganz aus den vorherrschenden Charakteranlagen der beiden Protagonisten. Die Bekehrung Darcys von seinem Standesdünkel und Elizabeths von ihrer Selbstgerechtigkeit wird mittels der subtilen Schilderung ihrer Bewußtseinsveränderungen vergegenwärtigt. 

Dazu bedient sich – ein literaturgeschichtlicher Modernitätsschub – die Autorin durchgehend der sogenannten erlebten Rede, einer Zwischenform von direkter und indirekter Rede, die bewirkt, daß die inneren Vorgänge durch die Perspektive nicht der Erzählerin, also Jane Austens, sondern durch die diese Vorgänge selbst „erlebenden“ Personen wiedergegeben werden. So nimmt der Leser unmittelbar am Innenleben der Figuren teil. Ganz verschwunden ist der Autor dabei allerdings doch nicht, denn der Heldin Elizabeth bleibt in diesem klugerweise in der dritten Person geschriebenen Roman ein Erzähler übergeordnet, der, oft in ironischer Form, eine gewisse Distanz zu den Romanfiguren schafft und dem Leser manchen aufklärenden Wink gibt. 

Obwohl das durch die erlebte Rede gekennzeichnete personale Erzählen „Pride and Prejudice“ sein besonderes Fluidum verleiht, nimmt die szenische Gestaltungsweise einen breiten Raum ein. Fast die Hälfte des Textes besteht aus Dialogen, unter denen die geistreichen Rededuelle zwischen Elizabeth und Darcy herausragen. Jane Austens witzig-brillante Dialogkunst trägt dazu bei, dem stets seinen heiteren Grundton bewahrenden, tragische Verwicklungen ausschließenden Roman den Anstrich einer Prosakomödie zu geben. 

   Die von dem Lärm der großen Welt abgeschirmte kleine Welt Jane Austens, wie sie dem Leser auch in „Emma“ (1816), ihrer kompliziertesten Erzählung, und „Persuasion“ (1818) entgegentritt, ist so lebensecht geschildert, daß ihre Romane nicht nur schlichten Gemütern als Ersatz für Lebenshilfe erscheinen könnten. Ihre heutige Rezeption erfolgt auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Die professionelle Literaturwissenschaft interessiert sich vor allem für die literarisch-gestalterischen Aspekte ihres Schaffens. Progressive Fachvertreter bedauern zudem, daß ihr Werk, was politische Ausdeutungsmöglichkeiten betrifft, ein unbeschriebenes Blatt genannt werden muß. 

Die breitere Rezeption greift über analytische Stringenz hinaus. Ihre anhaltende Beliebtheit verdanken Jane Austens Englishness ausstrahlende Romane wohl nicht zuletzt dem Umstand, daß sie – zumal in ihren filmischen Versionen – ein nostalgisches Zurückblicken auf die ländliche Welt der Gentry gestatten, die noch immer vielen in England als ideale Lebensform vorschwebt. Vielleicht – Ironie der Wirkungsgeschichte – ein nachträglicher Triumph der von ihr zurückgewiesenen romantischen Seite menschlichen Wesens.







Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über den englischen Schriftsteller H. G. Wells (JF  34/16).