© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/17 / 14. Juli 2017

Lebensmittel als Instrument im Klassenkampf
Ein Sammelband widmet sich den Hungersnöten in der Sowjetunion, die Millionen von Menschen das Leben kosteten
Konrad Faber

Politbüromitglied Valentin Falin meinte spitzzüngig nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die gesamte sowjetische Geschichte sei eigentlich ein Experiment von deren politischer Führung gewesen, auszutesten, wie leidensfähig die Bevölkerung ist. In anbetracht der Geschichte sowjetischer Hungersnöte mit jeweils Hunderttausenden, wenn nicht gar Millionen von Toten, die regional zum Zusammenbruch der gewohnten sozialen Ordnung inklusive dem Auftreten von massenhaftem Kannibalismus führten, ist Falin nur schwer zu widersprechen. 

Ein neuer Sammelband bietet zum Thema „Hunger in der Sowjetunion“ in dreizehn Aufsätzen erschütternde, archivbasierte Fakten. Bereits zu Zarenzeiten kam es in Rußland immer wieder zu regionalen Hungersnöten infolge von Wetterunbilden und Mißernten. Doch beherrschte die russische Bevölkerung seinerzeit Strategien, die ihr Überleben auch unter ungünstigen Umständen sicherten. Man verließ entweder frühzeitig die Hungerregionen oder schickte Familienmitglieder als Wanderarbeiter aus, die mittels ihrer heimgesandten Arbeitslöhne der Familie ein kärgliches Durchkommen ermöglichten. 

Widerständige Bauernschaft durch Hunger entkräften

Auch die zu sowjetischer Zeit als „Kulaken“ verteufelten Groß- und Mittelbauern hatten aus rein wirtschaftlichen als auch menschlich-sozialen Gründen durchaus ein Interesse daran, den notleidenden Dorfgenossen beim Überleben zu helfen. Zu Sowjetzeiten halfen diese alterprobten Überlebensstrategien aber nicht mehr, sie waren verpönt, und die Kulaken als „soziale Klasse“ wurden erfolgreich ausgerottet. Zugleich entdeckte die sowjetische Führung, daß der Hunger der eigenen Bevölkerung auch seine guten Seiten haben konnte. Der russische Historiker Igor Narskij geht bei seiner Beschreibung der Hungersnot im Ural 1921/22 jedenfalls davon aus, daß die Bolschewiki im Bürgerkrieg niemals hätten siegen können, wäre die widerständige Bauernschaft nicht durch den herrschenden Hunger entkräftet gewesen. 

Um die sowjetische Hungersnot von 1931/32, welche sich vorrangig in der Ukraine abspielte, entspann sich vor reichlich zwei Jahrzehnten ein erregter ukrainisch-russischer Historikerstreit. Während die Masse der russischen Historiker davon ausgeht, daß sich hier das totale Versagen der sowjetischen Bürokratie und der gnadenlose Ausverkauf sowjetischen Getreides für harte Valuta im Interesse der Stalinschen Industrialisierungspläne unheilvoll auswirkten, sehen ukrainische Historiker ganz andere Ursachen für jenes „Holodomor“ genannte Ereignis. 

Ihrer Auffassung zufolge habe Stalin jene Hungersnot mit ihren Millionen Toten als Kampfmittel genutzt, um die in seinen Augen in nationaler Hinsicht viel zu aufmüpfigen Ukrainer bewußt und brutal niederzuhalten. Im Gegensatz zu früheren Hungerkatastrophen wurde nämlich anfangs die Existenz von Hunger in der Sowjetunion schlichtweg geleugnet. Rußlanddeutsche, die aus dem Deutschen Reich Lebensmittelsendungen erhielten, wurden trotz ihrer elenden Lage genötigt, in drastischen Antwortbriefen sich diese Lebensmittelsendungen zu verbitten. Erst als Hunderttausende Tote gezählt wurden und die ukrainischen Dörfer menschenleer zu werden drohten, setzte zögernd staatliche Hilfe ein. 

Gleichzeitig nützte Stalin die günstige Gelegenheit, die gesamte Partei- und Staatsführung der Ukraine wegen ihres vorgeblichen „Versagens“ durch ihm genehme Personen zu ersetzen und die Abgesetzten meistens hinzurichten. Selbst für die letzte große sowjetische Hungersnot 1946/47 weiß der Historiker Klaus Gestwa keine eigentliche Hungerursache in Form von Mißernten anzuführen. Es scheint sich vielmehr um ein Verteilungsproblem gehandelt zu haben, welches die sendungsbewußte sowjetische Führung auf ihrem Weg zur Weltmacht zu spät wahrnahm und danach die notwendigen Hilfen verzögerte. 

Erst Chruschtschow bekämpfte Hunger aktiv

Immerhin besaß die Sowjetunion damals einige Millionen Tonnen Getreide an Staatsreserven, welche jedoch wegen der beständigen Kriegsgefahr im beginnenden „Kalten Krieg“ nicht angerührt werden durften. Mit ein bißchen Pragmatismus hätte man also diese Hungersnot vermeiden können, so wie es Anfang der sechziger Jahre unter Stalins Nachfolger Chruschtschow gelang. Als sich damals eine Hungersnot andeutete, kaufte Chruschtschow auf dem Weltmarkt sofort Getreide ein, und der drohende Hunger war gebannt. 

Interessant sind die Beobachtungen, welche zwei namhafte deutsche Osteuropahistoriker bei der Untersuchung sowjetischer Hungersnöte machten. Guido Hausmann erkannte beim Studium der deutschen Stalinismusforschung, daßsich viele Historiker der Erforschung des „Holodomor“ verweigern, denn eine Anerkenntnis des Holodomor als „Völkermord“ würde ihn, in Deutschland aus historischen Gründen sehr unerwünscht, in die Nähe des Holocaust rücken. Klaus Gestwa dagegen erkennt in den Hungersnöten der Stalinschen Epoche den eigentlichen Motor zu „Stalins Großartigem Plan der Umgestaltung der Natur“, der ab den fünfzigerJahren bei seiner Verwirklichung viele heute nachweisbare ökologische Schäden, so zum Beispiel bei den weitestgehend gescheiterten Bewässerungsprojekten in Mittelasien, nach sich zog. 

Alfred Eisfeld, Guido Hausmann, Dietmar Neutatz (Hrsg.): Hungersnöte in Rußland und in der Sowjetunion 1891–1947. Regionale, ethnische und konfessionelle Aspekte. Klartext-Verlag, Essen 2017, gebunden, 388 Seiten, 39,95 Euro