© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/17 / 21. Juli 2017

Der patriotische Quälgeist
Vor fünfzig Jahren starb der FDP-Gründervater und überzeugte Nationalliberale Thomas Dehler
Eberhard Straub

Die FDP hat sich von der Erinnerung an Thomas Dehler verabschiedet. Ihre Parteizentrale in Berlin, das Thomas-Dehler-Haus, wurde am 31. März 2017 zu Ehren von HansDietrich Genscher umbenannt. Dieser habe vorbildlich für die Werte der FDP geworben – Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit, Völkerverständigung und ein geeintes Europa. Von Deutschland und der wiedervereinten Nation, für die Thomas Dehler unermüdlich stritt, ist  nicht mehr die Rede. 

Für die mit Genscher verbundenen übrigen Ziele setzte sich allerdings auch Thomas Dehler, vor fünfzig Jahren am 21. Juli 1967 gestorben, ebenfalls energisch ein. Dieser nie um ein Wort verlegene, klassisch gebildete Jurist gehörte 1946 zu den Gründern der Partei, deren  Vorsitzender er von 1953 bis 1957 war. Im Parlamentarischen Rat sorgte er ab 1948 dafür, daß im Grundgesetz liberale Gedanken auch von SPD und CDU berücksichtigt werden mußten. Als Justizminister im ersten Kabinett Konrad Adenauers von 1949 bis 1954 legte er die Fundamente für das Funktionieren des Rechtsstaates in der Bundesrepublik. 

Der erste Justizminister blieb auch der beste als kompromißloser Verfechter der klassischen liberalen Idee, daß Freiheit Ordnung braucht. Der Stifter und Hüter der Ordnung war für Thomas Dehler noch ganz selbstverständlich die im Rechtsstaat geordnete und vorerst wegen ihrer Teilung ungeordnete Nation. An sie erinnerte er immer wieder, damit der Gedanke an ihre wieder zu erlangende Einheit als verpflichtende Aufgabe deutscher Politik nicht in Vergessenheit gerate. Das ist der FDP jetzt offenbar peinlich. Thomas Dehler blieb immer ein temperamentvoller Nationalliberaler in der Tradition der bürgerlich-revolutionären Frankfurter Paulskirche von 1848/49. Die selbstbewußte und geeinte Nation bildete für ihn überhaupt die Voraussetzung für eine geglückte Internationalität im Zusammenhang mit Marktwirtschaft, Völkerverständigung und dem Willen zur europäischen Einigkeit. 

Die deutsche Nation befand sich nach der totalen Niederlage im totalen Krieg in einer umfassenden Existenzkrise. Der leidenschaftliche Patriot Thomas Dehler ließ sich dadurch nicht entmutigen. Ohne eine deutsche Nation, die wieder in freier Selbstbestimmung handeln könne, schien ihm jede Ordnung in Europa unzulänglich, eben der Unordnung verhaftet, die überwunden werden müsse. Denn eine friedliche Ordnung bedarf der Gleichberechtigung aller, die sich in ihr zusammenfinden. 

Das unbestimmte europäische Denken dürfe jedoch nicht zum Ersatz des konkreten Staatsdenkens werden, wie er unermüdlich mahnte. Denn auch im europäischen Verband würden nationale Staaten weiterhin die politischen Protagonisten sein. Ein vorerst nur verschwommener Europagedanke könne daher als substanzloses Surrogat echtes Staatsgefühl und Rechtsstaatdenken gar nicht ersetzen. Auf die einzelnen Staaten mit ihrer Geschichte, mit ihrem Staatsvolk, eigener Sprache und besonderer Kultur, sei eine europäische Gemeinschaft ganz einfach angewiesen, die als rein formale Organisation geistige Inhalte brauche, um die Gemüter und die Willen der Europäer an sich zu binden. 

Die Konsensdemokratie war Dehler zutiefst suspekt

In diesem Sinne ging es Thomas Dehler mitten im gespaltenen Europa nicht um Einheit und Vereinheitlichung, sondern um Einigkeit, um den Ausgleich von Unterschieden, die den Reichtum Europas von Gibraltar bis zum Ural ausmachen. Deshalb erschien ihm eine Westpolitik ohne eine sie ergänzende Ostpolitik als ein Verrat an Europa. Das ganze, ungeteilte Deutschland sollte in einem ganzen, ungeteilten Europa seinen Platz finden, mit der Einheit Deutschlands auch das einige Europa unter Einschluß Rußlands zu einer neuen Gestalt gelangen. Seine Vorstellungen brachten ihn unvermeidlich in Widerspruch zur Politik Konrad Adenauers. Er bekämpfte gar nicht die Politik der Westbindung. Sie erschien ihm nur unfruchtbar mit ihrer polemischen Wendung gegen Rußland oder die Sowjetunion. Den Schlüssel zur Wiedervereinigung vermutete Thomas Dehler in Moskau. Mit dem Verschwinden der innerdeutschen Trennlinie wäre deshalb auch die innereuropäische Grenze aufgehoben und die kontinentale Spaltung endlich beseitigt. 

Der nationalliberale Deutsche dachte grundsätzlich als Europäer, aber Europa war für ihn nicht eingeschränkt auf Westeuropa und eine Ideologie des Westens. Konrad Adenauer warf er vor, als Kalter Krieger mehr an den Westen als an Deutschland zu denken und mit der Reduzierung Europas auf den Westen den Kontinent dauerhaft zu spalten. Am 23. Januar 1958 rechnete er in einer unvergeßlichen, fulminanten, von Tumulten der CDU/CSU dauernd unterbrochenen Rede im Bundestag mit der Politik des Kanzlers ab.

 Thomas Dehler wurde fortan zur mächtigsten Stimme der deutschen Opposition. Er paßte sich nicht den Wünschen der Konsensdemokratie an und ihren bequemen Übereinkünften und Kompromissen. Dies unglückselige Bundeshaus am Rhein empörte ihn zuweilen wegen der routinierten Öde von Debatten, die nichts mit der deutschen Kultur und der sie umgebenden Kultur der Welt zu tun hätten, mit Geist und Gedanken, ohne die jede Politik zu bloßer Geschäftigkeit ausarte. 

Die entschuldigende Auskunft, Politik sei nun einmal die Kunst des Möglichen, verwarf er als platt und irreführend. Das Gegenteil hielt er für wahr. Das richtig erkannte Ziel, die Notwendigkeit der wiederherzustellenden Einheit Deutschlands, muß erstrebt werden, auch wenn Schwierigkeiten dem entgegenstehen, die aber die Kräfte und den Willen stärken können, alle Hemmnisse zu überwinden und im Dunkel den rechten Weg ins Helle und ins Freie zu finden. Für ihn gab es stets Alternativen. 

Die Ereignisse von 1989 haben ihm recht gegeben

Eine Politik, die als alternativlos ausgegeben wurde, konnte ihn nicht überzeugen, da ein freies, selbständiges Handeln auf der Wahlfreiheit beruht. Seine beharrliche Mahnung, umsichtig und entschlossen nach dem einigen Deutschland zu streben, gerade um Europa zu vereinigen, wurde bald als lästig und völlig unrealistisch empfunden, weil von der Geschichte längst widerlegt. Die Geschichte hat seine Beharrlichkeit später glänzend bestätigt, als ab dem Herbst 1989 der Kanzler Helmut Kohl im Sinne Thomas Dehlers West- und Ostpolitik koordinierte und Gorbatschow im gemeinsamen Haus Europa dem deutschen Kanzler den Schlüssel für die wiederhergestellte deutsche Wohnung überreichte. 

Wie Thomas Dehler erwartet hatte, würden Franzosen, Briten, Italiener, eben die westlichen Europäer, sich gegen die Wiedervereinigung stemmen und damit die Politik der ausschließlichen Westbindung als Voraussetzung der Wiedervereinigung widerlegen. Da Moskau bereit war, den Deutschen ihre nationale Einheit zu gewähren, blieb den USA nichts anderes übrig, als sich in diese Lösung zu schicken. Nicht Konrad Adenauer und seine Politik der einseitigen Westbindung führten zum Erfolg, sondern die vom patriotischen Quälgeist Thomas Dehler einst vergeblich vorgeschlagene West- und Ostpolitik. Die Geschichte hat diesen bald unter dem Einfluß Adenauers böswillig verkannten großen Deutschen, Liberalen und Europäer rehabilitiert. Er verdiente als solcher eine umfassende Würdigung. Das hat die selbstvergessene FDP vergessen.