© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/17 / 21. Juli 2017

Über die wundersame Rettung des Abendlandes
Zur Neuausgabe von Felix Hartlaubs Darstellung der Seeschlacht von Lepanto
Wolfgang Müller

Wem heute der Name Felix Hartlaub noch etwas sagt, der denkt womöglich zuerst an sein spurloses Verschwinden in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges. Als die Rote Armee schon in vielen Stadtteilen Berlins kämpfte, bestieg der Obergefreite Hartlaub in Zehlendorf die immer noch verkehrende S-Bahn, um sich befehlsgemäß in eine Spandauer Kaserne zu verfügen. Dort kam er nie an. Lange nährte diese rätselhafte Fahrt ins Nichts die Hoffnung der Familie, er möge irgendwo im sowjetischen Gulag überlebt haben. Bis sie ihn nach der Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen im Oktober 1955 für tot erklären ließ.

Zu diesem Zeitpunkt begann die Kritik gerade, den Verschollenen als eines der „stärksten Prosa-Talente der jüngeren deutschen Generation“ (Hans Egon Holthusen) zu feiern. 1950 hatte seine Schwester Geno „Impressionen und Aufzeichnungen des Obergefreiten Felix Hartlaub“ publiziert, und regelmäßig versorgte sie seitdem führende Kulturzeitschriften wie Merkur, Die Neue Rundschau und Akzente mit Textpartikeln aus dem Nachlaß. 1955 kompilierte sie eine mit „Das Gesamtwerk. Dichtungen, Tagebücher“ unter falscher Flagge segelnde, weil höchst unvollständige Ausgabe. Im gleichen Jahr erschien bei Rowohlt ihre erweiterte Fassung der „Impressionen“ unter dem Titel „Im Sperrkreis“, ein Taschenbuch, das rasch hohe Auflagen erreichte. 1958 folgte dann eine vom Vater, dem Kunsthistoriker Gustav Friedrich Hartlaub, veranstaltete Briefauswahl, die ebenso massive Kürzungen und Entstellungen aufwies wie die Editionen seiner Tochter.

Ungeachtet vereinzelter Einwände dagegen, formte die Familie mit ihren Retouchen und Reduktionen doch über Jahrzehnte das Bild des menschenscheuen Melancholikers und „inneren Emigranten“ Felix Hartlaub, der in der Machtzentrale des Reiches, im äußeren Sperrkreis des Führerhauptquartiers (FHQ), die täglich beobachtete „Banalität des Bösen“ präzise protokolliert habe.   Dort, in der Abteilung Kriegstagebuch des Wehrmachtführungsstabs im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), seinem Chef, dem Mediävisten Percy Ernst Schramm, „Hitlers Thukydides“ (Erwin Panofsky) zuarbeitend, habe er ein „verstecktes Tagebuch von eigenwillig-dunkler Schwermut“ (Gustav René Hocke) geführt, das die abgründige Distanz des Poeten zum barbarischen NS-Regime und seiner brutalen Militärmaschinerie dokumentiere. 

Nicht von ungefähr kolportierte ein historisch so ungebildeter Lyriker wie Durs Grünbein dieses in der frühen Bundesrepublik geprägte Klischee vom Chronisten, der sich mit der „Tarnkappe über dem Stahlhelm“ unter den Augen des Leviathan bewegte. Als er dies schrieb, im Mai 1995, zum mutmaßlichen 50. Todestag Hartlaubs, dominierte im erinnerungspolitischen Diskurs über das Dritte Reich bereits uneingeschränkt der geschichtsfeindliche Täter-Opfer-Schematismus. So daß Grünbein flugs eigene läppische Stasi-Behelligungen mit existentiellen Gefährdungen in Kriegszeiten verrühren und Hartlaub dreist als „Verwandten“ vereinnahmen durfte. 

In Geschichtsdenken des George-Kreises eingebunden

Ähnlich behindert von den pathologischen bundesdeutschen Wahrnehmungsstörungen im Umgang mit der NS-Vergangenheit zeigte sich Monika Maroses gefühlig-moralisierende Biographie („Unter der Tarnkappe“, Berlin 2005), die den – leider auch durch die wissenschaftlichen Ansprüchen endlich genügende Werkedition von 2002 nicht abgeschnittenen – Faden fortspann und Hartlaub, aufgrund enger Freundschaft mit dem späteren DDR-Kulturminister Klaus Gysi, eine Beziehung zum kommunistischen Widerstandszirkel  der „Roten Kapelle“ andichtete, dem er zwecks Weiterleitung nach Moskau sogar Informationen aus dem FHQ anvertraut habe.

In ihrer Neuausgabe von Hartlaubs, kriegsgeschichtlicher Dissertation „Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto“, mit der er 1939 bei Walter Elze in Berlin promovierte, lassen der Hitler-Biograph Wolfgang Pyta und der Verleger Wolfgang M. Schwiedrzik solche primär nur für die Krankengeschichte der BRD interessante Legendenwucherung hinter sich. Dekonstruiert Schwiedrzik, ein ausgewiesener Kenner des „anderen Deutschlands“, die „poetisch verkleideten Persilscheine“ von Geno Hartlaub, Grünbein und Marose, um zur „ganzen“, vielschichtigen und vielfach gebrochenen Persönlichkeit Felix Hartlaubs vorzustoßen, schließt Pyta daran seine Präsentation des bisher vom Diaristen und Literaten verdeckten Historikers an. 

Die zähe Ignoranz gegenüber diesem Teil der Biographie müsse verblüffen,  denn das schmale dichterische Œuvre bleibe schon quantitativ hinter dem zurück, was der Historiker hinterließ. Was aber selbst in der Werkausgabe von 2002 fehlt: die Lepanto-Arbeit, für Marose kurioserweise kein wissenschaftlicher, sondern ein autobiographisch-therapeutischer Text, sowie Hartlaubs Anteile am Kriegstagebuch des OKW, „der wichtigsten Dokumentation des Kriegsgeschehens“.

Von dem bei ihm erstmals Konturen gewinnenden Historiker ausgehend, skizziert Pyta neue, weite Horizonte für die Beschäftigung mit Hartlaub: die durch Elze, einen Schüler von Friedrich Wolters, vermittelte Einbindung in das Geschichtsdenken des George-Kreises, die Synthese von Wissenschaft und Kunst in der Historiographie, an der sich Hartlaubs Doppelporträt Don Juans und Papst Pius’ V. orientiert, und schließlich der Brückenschlag zu Fernand Braudel, einem der Protagonisten der Annales-Schule, und dessen auf Hartlaub Bezug nehmendes, in einem deutschen Kriegsgefangenenlager konzipiertes Opus magnum „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“ von 1949. 

Um dem Leser den Zugang zur Hartlaub-Dissertation zu erleichtern, setzt sich Pyta von der schiefen deutschen Rezeption ab, der zufolge die Annalisten die personenzentrierte Ereignisgeschichte zugunsten der Erforschung überindividueller, ethnisch-kultureller, geographischer und sozioökonomischer Determinanten des Geschichtsprozesses aufgegeben hätten. Denn auch Braudel lasse den „Ereignissen“ ihr Recht und schildere Don Juan d’Austria nicht bloß als Agenten metahistorischer Kräfte. Wie auf der anderen Seite Hartlaub mit seinem an der Filmtechnik geschulten dramatisch zuspitzenden Erzählstil den Sieger von Lepanto als Gefangenen endlos verwickelter Verhältnisse in einem politisch und konfessionell heillos zerrissenen Europa auftreten läßt, das noch Monate vor der entscheidenden Seeschlacht am 7. Oktober 1571 unfähig schien, die schon Spaniens Küstenregionen berührende osmanisch-islamische Expansion zu stoppen. Wie es Don Juan, dem illegitimen Sohn Kaiser Karls V., und Papst Pius V., der „Seele der anti-osmanischen Allianz“, trotzdem gegen alle Widrigkeiten gelang, das Abendland zu retten, ist in Hartlaubs quellenkritisch kontrolliertem, unverändert „modern wirkenden“ Prosakunstwerk nachzulesen.

Provokante Aktualität der „Lepanto“-Darstellung

Eine schwere Krankheit, entschuldigt sich Schwiedrzik, habe die Neuausgabe dieser verschütteten Doktorarbeit um fast zehn Jahre verzögert. Was sich jetzt als Glück im Unglück erweise, da mittlerweile, als Folge von Masseneinwanderung und der Islamisierung mit ihren terroristischen Auswüchsen, wenigstens in politisch urteilsfähigeren Teilen der Bevölkerung wieder das nach dem Untergang des Sowjetimperiums erloschene Bewußtsein für Europas stets gefährdete Lage erwacht sei. Damit werde die Wahrnehmung für vergleichbare Konstellationen in der Vergangenheit geschärft. 

Umgekehrt könne Hartlaubs detaillierte Beschreibung atemberaubender Zuspitzungen im Vorfeld der Lepanto-Schlacht angesichts des gegenwärtigen, „bedrohlichen, militanten“ islamischen Vordringens den Sinn schärfen für ein historisch vertieftes Verstehen dieses auf die Zerstörung der europäischen Zivilisation zulaufenden Prozesses. „In Form von gezieltem Terror, in Form von massenhaften Flüchtlingsströmen aus muslimischen Ländern, aber auch in Form des Ausbaus von Parallelstrukturen (mit dem Primat der Scharia) und dem Aufbau Fünfter Kolonnen durch die Regimes in Saudi-Arabien, der Türkei und anderen Ländern“ greife der Islam nach Europa aus. Der alte Kontinent sei daher „von außen (und inzwischen auch von innen)“ in einer Weise bedroht, wie nicht mehr seit den Türkenkriegen im 16. Jahrhundert und der unter deutsch-polnischer Führung aufgebrochenen Belagerung von Wien im Jahre 1683.

Eine derart provokante Aktualisierung eines vor einem Dreivierteljahrhundert entstandenen Textes drückt begreiflicherweise aufs Gemüt unserer Islamversteher und Offenheitsideologen in der Frankfurter Hellerhofstraße. Automatisch rügt daher Andreas Kilbs Rezension Schwiedrziks Einleitung, weil sie den „positiven Gesamteindruck“ der Edition „stört“ (FAZ vom 24. Juni 2017). Sei es doch nicht erlaubt, appelliert Kilb in verniedlichend-plumper Verlogenheit an den Mitherausgeber, die „Schlauchboote voller Hungerleider“, die gottlob von „Nato-Fregatten gerettet werden“, mit dem Islam und der „heutigen Bedrohung des Westens“ in Verbindung zu bringen. Wo Kilb recht hat, hat er recht. Zumindest für seine Branche. Denn für ordinäre Mietlingsgeister, auf Arbeitsplatzsicherung bedachte Journalisten der „Willkommensjunta“ (Michael Klonovsky), gilt schon seit langem, daß auf dem „hochsensiblen“ Terrain des „Großen Austausches“ nix mehr mit nix zu tun hat.

Wolfram Pyta, Wolfgang M. Schwiedrzik (Hrsg.): Felix Hartlaub. Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto. Edition Mnemosyne, Neckargemünd 2017, gebunden, 292 Seiten, Abbildungen, 24 Euro