© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/17 / 21. Juli 2017

Abschied vom Mängelwesen Mensch
Mit Siebenmeilenstiefeln unterwegs zur Silikonisierung der Welt / Forschung zur Künstlichen Intelligenz
Sven Mielke

Eine Begegnung der dritten Art, wie in der Ingolstädter Saturn-Filiale, dürfte der Kundschaft bald in vielen deutschen Einkaufszentren und Supermärkten bevorstehen. In der Audi-Stadt begrüßen „Einkaufsassistenten“ wie der in „dynamischer Alltagsumgebung“ agierende Serviceroboter „Paul“ die Kunden, fragen sie nach ihren Produktwünschen und leiten sie an das gesuchte Regal.

Wer eine solche Einsatzform von Künstlicher Intelligenz (KI) für eine werbewirksame Spielerei hält, wird von „Pauls“ Schöpfer vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) auf imponierende ökonomische Entwicklungen verwiesen, die gerade die Arbeitswelt revolutionieren („Industrie 4.0“, JF 24/17). Bis 2020 dürften 40 Milliarden Dollar für kognitive Systeme ausgegeben werden. In jedem Jahr würden diese Investitionen um 55 Prozent steigen (Weiter. Vorn. Das Fraunhofer-Magazin, 1/17).

Zukunftsweisende Milliardenindustrie

Das größte Engagement sei dabei in den Bereichen Einzelhandel, industrielle Produktion, Medizin und Finanzen zu erwarten. Mit dem großen Verbund ihrer Institute für Optronik, Systemtechnik, Bildauswertung, Integrierte Schaltungen, Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen, Fabrikbetrieb und Automatisierung oder offene Kommunikationssysteme wollen die Fraunhofer sich daher gegen die Hauptkonkurrenten aus den USA, Japan, Südkorea und China behaupten und für sich und die deutsche Wirtschaft ein großes Stück vom Kuchen dieser „zukunftsweisenden Milliardenindustrie“ abschneiden.

Die „Kollegen“ von „Paul“ sollen aber demnächst wesentlich sinnvoller als bei Saturn in Krankenhäusern und Firmen Dienst tun. Jenseits der gehypten „autonomen“ Autos, für die die Fraunhofer gerade „Absicherungskonzepte für den Mischverkehr“ testen, glaubt man in den zumeist im süddeutschen Konzern-Umfeld von Siemens, Bayer, Daimler und Bosch angesiedelten Fraunhofer-Instituten für die „Industrie 4.0“ bestens gerüstet zu sein.

Der die Entwicklungsziele dominierende Grundgedanke ist – wie bei den KI-Instituten der Max-Planck-Gesellschaft (JF 42/16) – so simpel wie ökonomisch motiviert: Leistungssteigerung, Kostensenkung und Gewinnmaximierung durch Prozeßoptimierung. Das gilt auch – angesichts der Erwartungen von Krankenkassen oder Versicherungskonzernen – auf einem KI-Anwendungsfeld, wo dies am undeutlichsten zutage tritt, der „individualisierten Medizin“.

„Deep Learning“ heißt das Zauberwort. Es bezeichnet künstliche neuronale Netze, die sich an der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn orientieren und die die Analyse hochkomplexer Datenmengen besorgen. Nicht einmal die Forscher der Arbeitsgruppe Maschinelles Lernen vom Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik (Heinrich-Hertz-Institut/HHI), die zusammen mit Kollegen von der TU Berlin eine Software entwickelten, die dem neuronalen Netz „beim Denken zuschauen“ kann, wissen bis heute genau, wie dessen Resultate entstehen.

Man füttere diese „Black Box“ halt mit Daten und sei erfreut über die „überraschend gut verwendbaren Ergebnisse“. Jedenfalls taugt Deep Learning dazu, aus Daten herauszufiltern, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Patient eine genetische Erkrankung hat. Am Ende soll eine individuell auf den Patienten zugeschnittene Krebstherapie stehen. Ähnliches offeriert das Visual-Computing-Verfahren des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung (IGD). Es klassifiziert große, aus radiologischen Untersuchungen erstellte Datenbanken. Dabei verknüpft und visualisiert es eine Vielzahl von Parametern mit allgemeinen Patientendaten, so daß jeder Arzt Daten von mehreren tausend Patienten überblickt und ein statistisch viel signifikanteres Bild von Krankheitsverläufen bekommt, als dies bisher möglich war.

Fraunhofers Bioinformatiker wollen im Interesse der biotechnologischen und pharmazeutischen Industrie mit dieser Form der Wissensgewinung die klinische Anwendung von Demenzstudien beschleunigen. Maschinelle Lernverfahren sollen helfen, aus Datenbanken und der wissenschaftlichen Literatur Informationen zu extrahieren, deren Erfassung weit über die kognitiven Fähigkeiten einzelner Forscher hinausgeht. „Jenseits menschlicher Leistungsfähigkeit“ tun sich so neue Einblicke in die Wirkungsmechanismen von Demenzerkrankungen auf.

Zeitvariable Strompreise

Für die Industrieproduktion eröffnet das Big-Data-Prinzip – das Sammeln, Speichern und Auswerten riesiger Datenozeane – weite ökonomische Horizonte. Die Bayer AG etwa setzt ein Fraunhofer-Tool konzernweit zur Überwachung komplexer chemischer Prozesse bei der Produktion von Kunstdünger und Pflanzenschutzmitteln ein. Auf erhebliche Nachfrage dürften auch Fraunhofer-Angebote zur Nutzung zeitvariabler Strompreise (JF 25/17) oder zur Verhinderung von Energiespitzen in der Produktion sein – damit ließen sich die Betriebskosten um bis zu zehn Prozent senken. Und Pauls Schwester, der mobile Assistenzroboter „Annie“, der flexibel schweißt, bohrt, schraubt und klebt, dürfte demnächst selbst bei Mittelständlern zum Standard zählen.

Für Moritz Hämmerle, der das von den Fraunhofern und der Stuttgarter Universität getragene „Future Work Lab“ leitet, bedarf es noch einiger Überzeugungsarbeit, bevor Arbeitnehmer die digitalisierte Fabrik und die intelligente Automatisierung als „Chance und nicht als Bedrohung“ verstehen lernen. Aber die Brücke zwischen ihnen, Betriebsräten und Konzernführungen habe sein Labor inzwischen gespannt, so daß man den „Transfer innovativer Ideen in die Umsetzung durch Industriepartner“ ungehemmt forcieren könne.

Weniger optimistisch als dieser schwäbische Maschinenbau-Ingenieur ist der französische Philosoph Éric Sadin, der die Kurzfassung seiner Kritik am „Geist von Silicon Valley“ („La Silicolonisation du monde“, Paris 2016) unlängst in der Zeit (24/17) publizierte. Die Visionen einer KI-Welt, wie sie mit messianischem Eifer, der Fraunhofer-Forschern eher abgeht, die an vorderster Front operierenden IT-Konzerne des Silicon Valley propagieren, steuern auf die Ersetzung des „Mängelwesens Mensch“ (Arnold Gehlen) zu, das leistungsfähigere Roboter „neutralisieren“.

Damit wachse sich die rasant zahlreiche Lebensbereiche „kolonisierende“ KI mit ihrem „technologischen Nihilismus“ und „radikalen Antihumanismus“ zur „bedeutendsten politischen Kraft der Geschichte“ aus. Innerhalb einer einzigen Generation werde die kapitalistischen Privatinteressen gehorchende „Silikonisierung der Welt“ die Grundprinzipien des europäischen Humanismus und somit ein Menschenbild nachhaltig zerstören, für das autonome Erkenntnis und freie Entscheidung ebenso essentiell sind wie Verantwortung und das Recht von Gesellschaften, gemeinsam über ihr Geschick zu bestimmen.