© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Wir sehen uns wieder am Oderstrand
Reportage aus Schlesien: Ein Panorama einer Provinz im heutigen Polen, die jahrhundertelang zum deutschen Kulturraum gehörte
Matthias Bäkermann / Felix Krautkrämer

Andrzej setzt sein Bier an und leert es mit wenigen Zügen. „Kommt mit, ich zeige euch etwas.“ Es ist heiß an diesem Tag Mitte Mai. Andrzej hat frei und sitzt im Muskelhemd und kurzer Hose in der Sonne an einem Tisch der Gastwirtschaft „An der Ecke“. Eigentlich arbeitet er als Lkw-Fahrer in Deutschland, aber das verlängerte Wochenende verbringt er in seinem oberschlesischen Heimatdorf Himmelwitz. Hier ist er geboren und hier lebten seine Eltern, deren Haus er nun übernommen hat. Andrzej steht auf und schlendert die Straße entlang. Er nennt die Namen der Bewohner der einzelnen Häuser, an denen er vorbeikommt. „Gibt wenige junge Menschen hier. Sind viele nach Deutschland. Arbeit.“ 

Vor dem Gefallenendenkmal bleibt er stehen. „Wurde nach dem Kommunismus gebaut.“ Gewidmet ist es den gefallenen Söhnen, Männern und Vätern der Pfarrgemeinde Himmelwitz, die nicht aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause kehrten. „Tapfer oder furchterblichen, voll des Glaubens und des Stolzes, abenteuerjung und weiterblickend. Keiner kann dies heut’ bemessen. Was bleibt ist Schmerz und Nichtvergessen“, steht auf der Säule, die 1992 neben dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs errichtet wurde. Auch Andrzej fühlt sich den Toten auf der Tafel verbunden. „Ich bin zwar kein richtiger Deutscher. Mein Paß ist polnisch. Aber ich bin kein Pole. Ich bin Schlesier.“ Auf dem Rückweg zum Dorfgasthof passiert der breitgebaute Mann die Kirche, in der am Donnerstagabend eine Heilige Messe gefeiert wird. Die Tür zur gut gefüllten Kirche steht offen. Andrzej blickt zum Altar und bekreuzigt sich im Vorbeigehen. „Wir sind fromme Menschen hier“, sagt er. 

Unweit von Himmelwitz ragt der Annaberg empor, jener „deutsche Schicksalsberg“, um den im Mai 1921 heftig gekämpft wurde. Polen versuchte, unterstützt von französischen Besatzungstruppen, den Anschluß Oberschlesiens gewaltsam zu erzwingen. In einer Volksabstimmung hatten sich zuvor fast sechzig Prozent der Oberschlesier für den Verbleib beim Deutschen Reich entschieden. Nun wollte Polen militärisch Fakten schaffen. Doch der Oberschlesische Selbstschutz verhinderte mit mehreren Freikorps die gewaltsame Annektierung. Am Morgen des 21. Mai 1921 setzten die deutschen Einheiten, allen voran das Freikorps Oberland, zum Sturm auf den Annaberg an. Die Polen hatten sich dort mit starken Kräften im Kloster verschanzt, aber sie konnten dem Angriff der deutschen Freiwilligeneinheiten nicht standhalten. Die Oberland-Bataillone stürmten von zwei Seiten den Anstieg hinauf. Zur Mittagszeit war der Annaberg wieder in deutscher Hand, und vom Kirchturm des Klosters wehte die schwarzweißrote Fahne. Doch der Sieg hatte nur teilweise Bestand. Bereits im Oktober beschloß der Oberste Rat der Alliierten, den Ostteil des oberschlesischen Industriereviers gegen den Willen der Bevölkerung an Polen zu übertragen.

Heute ist die alte Feindschaft zwischen Polen und Deutschen in Schlesien weitgehend einem Mit- bzw. friedlichem Nebeneinander gewichen. Das berichtet auch Henryk Rudner von der deutschsprachigen Minderheit in Groß Strehlitz. „Es hat sich alles entspannt. Unsere Kinder können in der Schule Deutsch lernen. Dafür haben wir lange kämpfen müssen.“ Sein Vater hätte in jungen Jahren in seiner Muttersprache noch nicht einmal in der Öffentlichkeit reden dürfen. Selbst zu Hause habe man polnisch gesprochen. Heute dagegen sei das alles kein Problem mehr. So könne er beim Fußball ganz offen für die deutsche Nationalmannschaft jubeln. Und sogar einen Maibaum, in Polen ein eher unbekannter Brauch, hat die deutschsprachige Minderheit in diesem Frühjahr in der Ortsmitte gesetzt. Stolz präsentiert Rudner den Anger, wo der gut zwölf Meter hohe Mast in Blau-Gelb, den Farben Oberschlesiens, die Giebel ringsherum überragt. 

Daß sich das Verhältnis zwischen Polen und deutschsprachiger Minderheit normalisiert hat, liegt auch daran, daß viele junge Polen heute in Deutschland arbeiten. Doch gerade diese Abwanderung ist es, die der Region zu schaffen macht. „Wer nicht in Breslau studiert, geht gern nach Berlin, auch wegen der Entfernung. Und in Deutschland gibt es Arbeit, ob als Angestellter oder als Unternehmer, zum Beispiel in der Baubranche.“ Die örtlichen Betriebe hätten dagegen immer größere Schwierigkeiten, Mitarbeiter zu finden. Das Ausbluten der Region ist auch für die deutschsprachige Minderheit eine existentielle Bedrohung, denn gerade ihre Angehörigen zieht es wegen der Doppelstaatlichkeit in den wirtschaftlich stärkeren Westen. Um so schwieriger ist es, das kulturelle Erbe in Oberschlesien aufrechtzuhalten. „Außerdem läßt die Unterstützung aus Deutschland immer mehr nach. Es geht nicht in erster Linie um finanzielle Unterstützung, sondern um die politische. Vieles, für das wir uns engagieren – deutsche Kultur, Bräuche, Sprache, Geschichte – spielt in Deutschland eine immer geringere Rolle, gerade in der Politik“, klagt Rudner. Angesprochen auf die deutsche Flüchtlingspolitik wird der Vertreter der deutschsprachigen Minderheit zurückhaltend. Merkels Handeln sei für viele Polen nicht nachvollziehbar. „Ich werde oft gefragt: ‘Was macht deine Kanzlerin?’ Aber ich zucke dann auch nur mit den Schultern.“ 

Für das Wochenblatt, die „Zeitung der Deutschen in Polen“ aus Oppeln, ist die Asylkrise momentan ebenfalls kein Thema mehr. Hier beschäftigt sich die Redaktion gerade mit dem Schulz-Hype und der Frage, ob der Kanzlerkandidat der SPD Merkel gefährlich werden kann. Mit 6.000 Exemplaren ist es die auflagenstärkste Zeitung der deutschen Minderheit in Polen. Es gibt auch einen Radio- und einen TV-Sender. Unterstützt wird die Zeitung vom Institut für Auslandsbeziehungen (IfA) mit Sitz in Stuttgart. „Die deutschsprachigen Medien der Minderheiten können mit ihren an deutschen Medien orientierten Werten auf einheimische Medien ausstrahlen“, begründet das Institut seine Förderarbeit. Zum anfangs ungezwungenen Gespräch mit der Wochenblatt-Redaktion kommt dann nach kurzer Zeit eine Vertreterin des IfA hinzu. Es gehe bei der Arbeit hier vor Ort nicht um „den nationalen Gedanken“, falls man das erwarte, betont sie mit schwäbischem Einschlag und bedenkenschwerer Miene. „Unser Anliegen ist die Völkerverständigung.“ Den leicht verdutzten Redakteuren des Wochenblatts bedeutet sie daraufhin, daß es nun wohl besser wäre, weiterzuarbeiten. 

In fast 800 Jahren prägten Schlesien schreckliche Kriege 

Tatsächlich war es in Oberschlesien mit dieser „Völkerverständigung“ bis weit ins 19. Jahrhundert gar nicht so schlecht bestellt. Auch dort nicht, wo es gemischtsprachig war, östlich der Oder zwischen Kreuzburg im Nordwesten bis zum „Dreikaisereck“ bei Myslowitz im Südosten, wo noch heute ein kleiner Park an den Grenzpunkt von russischem Zarenreich, österreichischer k.u.k. Monarchie und dem Deutschen Kaiserreich erinnert. In den ländlichen Gemeinden überwogen Polen, die sich schon damals als genuine Schlesier von ihren engen Verwandten in „Kongreßpolen“ abhoben, was sich nicht zuletzt im polnisch-deutschen Mischdialekt ausdrückte, vom überwiegend deutschen Bürgertum in den Städten gern als „Wasserpolnisch“ bezeichnet. Als auf dem Grundbesitz einiger Landadliger seit Anfang der 19. Jahrhunderts die reichen Kohle- und Erzvorkommen erschlossen und Kleinstädte oder gar Dörfer wie Beuthen, Kattowitz und Gleiwitz innerhalb weniger Jahrzehnte zu Großstädten industrialisiert wurden, schufteten die Arbeiter in den Flözen unter Tage oder an den Hochöfen ohnehin Seit’ an Seit’. Als Bergmann war die Nationalität unerheblich, auch der deutsche Hauer schimpfte ein herzhaftes „Sakrew pironje“, und aus der ursprünglich abqualifizierend gemeinten Benennung „Kaczmarek“ wurde schnell ein „treuer Gefährte“, so daß sich dieser Ausdruck im Jargon der Fliegerei für „den Flügelmann“ bis in die Gegenwart erhalten konnte. 

Die Ähnlichkeit des Oberschlesischen Reviers mit seinem Pendant an der Ruhr ist augenfällig, hier Industrieareale und großstädtische Infrastruktur, dazwischen landwirtschaftliche Flächen und Wälder, die sogar die Schlote und Fördertürme der Optik entziehen. Anders als Krupps „Villa Hügel“ konnten viele herrschaftliche Sitze der Industrie-Magnaten wie von Winckler oder Henckel zu Donnersmarck ihren Glanz nur sporadisch über Krieg und Kommunismus retten: Das in mondänem Loire-Stil in Sichtweite der alten Reichsgrenze zu Rußland bei Tarnowitz gebaute Schloß der Donnersmarcks fiel beispielsweise völlig der brandschatzenden Roten Armee zum Opfer, am Ende des Zweiten Weltkriegs, der für die schlesische Geschichte auf schreckliche Weise zur Zäsur wurde.

Kriege prägten die Provinz schon zuvor, obwohl es an der Oder die meiste Zeit viel friedlicher zuging als in anderen Regionen Mitteleuropas. Aber wenn die Heerscharen hier durchzogen, hatte das meist apokalyptische Dimensionen. Das fing bereits an, als die deutsche Ostkolonisation vor achthundert Jahren gerade ansetzte, und Lokatoren mit Siedlern von Rhein, Main und Maas begannen, 160 Städte und etwa 1.500 Dörfer in Schlesien zu gründen. Den 1241 eindringenden Mongolen unter Batu Khan konnte das aus deutschen und polnischen Rittern bestehende Heer wenig entgegensetzen und wurde vernichtend geschlagen. Dort, wo die Leiche des gefallenen Piastenherzogs Heinrich II. gefunden wurde, ließ seine Gemahlin Hedwig von Andechs – später als Heilige und Schutzpatronin von Schlesien verehrt –eine Probstei errichten. Heute leuchten die gelben barocken Türme der Klosterkirche im Wallfahrtsort Wahlstatt in Sichtweite der Autobahn Berlin-Breslau. An die dort nach der Säkularisierung 1810 bis 1918 befindliche preußische Kadettenanstalt, wo die Kindheit vieler Junkersöhne wie Paul von Hindenburg oder Manfred von Richthofen im Alter von elf Jahren jäh im engen Uniformrock endete, erinnert heute nichts mehr. Der polnische Pfarrer in seiner Soutane, der vor dem kleinen Museum nebenan auf eine Schülergruppe wartet, zieht nur entschuldigend die Schultern hoch: „Davon weiß ich nichts.“ 

An einem anderen bekannten Schlachtort, zwanzig Kilometer westlich von Breslau, gibt es für deutsche Touristen immerhin einige vergilbte Hinweise auf Schautafeln zu entziffern. Dort, wo preußische Truppen an der Kirche von Leuthen, einem Scheitelpunkt der Schlacht, die österreichische Übermacht stellten und Friedrich der Große schließlich einen seiner berühmtesten Siege im Siebenjährigen Krieg erfocht, hat irgendjemand ein Hinweisschild in deutscher Sprache hinterlassen. Es erinnert an den berühmten Choral „Nun danket alle Gott“, den 25.000 erschöpfte Krieger am Abend des 5. Dezember 1757 anstimmten. 

Zwei andere Relikte einer kriegerischen Katastrophe, die Schlesien erschütterte, haben es dagegen sogar auf die Weltkulturerbeliste der Unesco geschafft. Nach den entsetzlichen Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges konnte in Niederschlesien nach 1648 die lutheranische Minderheit in Jauer und Schweidnitz den Stadtvätern jeweils den Bau eines eigenen Gotteshauses abtrotzen. Dieser war jedoch allerlei schikanösen Beschränkungen unterworfen. So durften die Kirchen nur außerhalb der damaligen Stadtmauern und nicht aus Stein oder Ziegel errichtet werden. Auch ein Turm war untersagt. Die Bauzeit der Fachwerkkirchen war zudem auf ein Jahr befristet, um aufwendigen Prunk zu unterbinden. Diese Rechnung ist allerdings nicht aufgegangen, denn die prachtvolle Holzausstattung der „Friedenskirchen“ in diesen Städten, die mit finanzieller Unterstützung aus Deutschland unterhalten werden, ist atemberaubend und zieht viele Besucher an. 

Zum Pflichtprogramm einer jeden Schlesienreise gehört nach wie vor ein Besuch Breslaus, der einstigen Hauptstadt der Provinz und bis 1945 mit etwa 630.000 Einwohnern immerhin neuntgrößte Stadt des Reiches. Bei Kriegsende im Mai 1945 zählte die umkämpfte Stadt noch etwas über 200.000 Bewohner, darunter 2.000 Polen. Drei Jahre später hatten sich mit der Vertreibung die Kräfteverhältnisse umgekehrt, 1948 harrten noch etwas mehr als 2.000 Deutsche hier aus. Breslau ist heute dank Universität und zahlreicher Rucksacktouristen eine lebendige Stadt. Junge Menschen säumen die öffentlichen Plätze oder tummeln sich an den Tischen vor den Bars, Cafés und Restaurants, wo man dem hippen Flair anderer europäischer Metropolen wie London, Paris oder Berlin nacheifert. Der Wiederaufbau der bei Kriegsende so schwer zerstörten Stadt hat sich am historischen Original orientiert. Ob Dominsel, Breslauer Ring samt Rathaus, das Stadtschloß, Hauptbahnhof oder die Jahrhunderthalle: Viele der prachtvollen Bauwerke strahlen heute beinahe wieder im alten Glanz. Und auch wenn längst noch nicht alle Spuren von Krieg, sozialistischem Wohnungsbau und Oderhochwasser 2010 beseitigt sind, erhält man vielerorts eine Ahnung, warum Breslau vor seiner Zerstörung als barocke Perle Schlesiens bezeichnet wurde. Im „Schweidnitzer Keller“, dem traditionsreichen Restaurant im Gewölbe des Alten Breslauer Rathauses, speisten schon Goethe, Eichendorff, Lessing, Hoffmann von Fallersleben und Ferdinand Lassalle. Seit 1273 nahezu ununterbrochen bewirtschaftet, ist die Gaststädte nach eigenen Angaben eine der ältesten Europas. Von diesem Ruf profitiert der „Schweidnitzer Keller“ gerade unter Touristen, die eine Gelegenheit nutzen wollen, einmal am gleichen Tisch zu sitzen, an dem schon Gerhart Hauptmann seinen Wein trank. 

Hauptmann, einer der insgesamt zwölf Nobelpreisträger, die aus Schlesien stammten – mit Fritz Haber für Chemie, Max Born für Physik und Reinhard Selten für Wirtschaftswissenschaften allein drei aus Breslau – zählt nach wie vor zu den berühmtesten Köpfen der früheren preußischen Provinz. „Nirgendwo in Europa werden so viele grandiose Menschen geboren wie in Schlesien“, heißt es stolz über die gewürdigten Preisträger. Das Schicksal des Schriftstellers Gerhart Hauptmann war später eng mit dem Schlesiens verbunden. Er erlebte das Kriegsende in der Abgelegenheit von Agnetendorf im Riesengebirge, knapp drei Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt. Nicht zuletzt wegen seines gesellschaftskritischen Dramas „Die Weber“ in der Sowjetunion hoch geehrt, bewahrte den 83jährigen ein Schutzbrief von Offizieren der Roten Armee davor, wie seine Mitbürger im Juli 1945 vertrieben zu werden oder den „organisierten Bevölkerungsaustausch“ mitzuerleben, wie eine Schautafel in dem heute dort betriebenen Museum belehrt. 

Erst im April 1946 konnte die polnische Regierung schließlich „seine Aussiedlung“ durchsetzen. Der Dichter verstarb jedoch, bevor „traumatisierte polnische Neubewohner“, meist „alleinerziehende Mütter, deren Männer und Söhne in deutschen Konzentrationslagern gelitten hatten und deren Wohnungen in Polen von der Wehrmacht zerstört wurden“, Agnetendorf erreichten. Anders als zu „nationalkommunistischer Zeit“ wird in Hauptmanns Waldvilla immerhin nicht mehr die Mär von der in Polen lange wirkungsmächtigen Deutung der „wiedergewonnenen Gebiete“ wiedergekäut. Das kulturelle Œuvre des naturalistischen Dichters erschließt sich dem Gast beim Gang über das knarrende Parkett kaum. Als Genius loci ist sein „Haus Wiesenstein“ fast so entrückt wie heute der Weberaufstand von 1844 in den damaligen Hauptorten am Fuße des Eulengebirges. In Peterswaldau oder Langenbielau finden sich nicht einmal auf den Friedhöfen Hinweise auf die frühindustriellen Arbeiterunruhen.

Auch das in den achtziger Jahren auf Betreiben des damaligen CDU-Innenministern Alfred Dregger gebaute „Eichendorff-Kultur- und Begegnungszentrum“ im oberschlesischen Lubowitz bei Ratibor, wo 1788 der große Lyriker der Romantik das Licht der Welt erblickte, steht etwas verloren an seinem Platz. Der vor Jahren an der nah gelegenen Schloßruine angebrachte Schriftzug „Keinen Dichter noch ließ sein Heimat los“ wirkt fast grotesk. Denn auch wenn die Landschaft mit Blick auf das Odertal mit seinen vielen „kühlen Grunden“ ihren Reiz bewahrt hat, beflügelt heute in den trostlosen Bauerndörfern wenig die Vorstellung, daß hier „der Himmel die Erde still geküßt hätt’“.

Schlesisches Bewußtsein in Sachsen und Brandenburg

In Neiße, dort wo sich Eichendorffs Grabplatte aus dem Jahr 1857 auf dem Jerusalemer Friedhof ausschließlich umringt von polnischen Grabsteinen jüngeren Datums seltsam ausnimmt, fallen die Narben des Krieges wie sonst nirgends ins Auge. Das „schlesische Rom“, das mit seinen vielen Sakralbauten und dem prächtigen Stadtbild mit Bürgerhäusern der Barock- und Rokokozeit als architektonisches Kleinod Schlesiens galt, ist untergegangen. Heute offenbart selbst die zentrale St.-Jakobsbasilika noch Relikte der Zerstörung. Dabei hatte Oberst Georg Sparre, letzter Kommandant der „Festung Neiße“, der anrückenden Roten Armee die Stadt im März 1945 kampflos überlassen, um eine Zerstörung zu verhindern. Dies brachte ihm auf Geheiß seines vorgesetzten Generals Ferdinand Schörner das Todesurteil ein. Sparre entging der Hinrichtung, von der völlig intakten Stadt ragten jedoch nach wenigen Tagen unter dem sowjetischen Furor nur noch zehn Prozent intakter Bausubstanz aus den rauchenden Trümmern hervor. 

Diese Zerstörungen der letzten Kriegsmonate im bis dahin vom alliierten Bombenterror unbehelligten und deshalb als „Reichsluftschutzkeller“ geltenden Schlesien hätten der Provinz vielleicht erspart bleiben können. Ebenso die Vertreibung Millionen seiner deutschen Einwohner, von denen Hunderttausende Opfer von Mord und Vergewaltigung, Verschleppung oder Lagermarter wie im oberschlesischen Lamsdorf wurden. Denn hätten die Männer, die sich um Peter Graf Yorck von Wartenburg oder Helmuth James Graf von Moltke auf dem Gut Kreisau seit 1942 regelmäßig trafen und am Widerstandsnetzwerk von Stauffenberg knüpften, am 20. Juli 1944 Erfolg gehabt, wäre diese Katastrophe wohl glimpflicher ausgegangen. Heute ist das Gut Kreisau, etwa zwanzig Kilometer von Waldenburg entfernt, eine internationale Jugendbegegnungsstätte mit einer kleinen Ausstellung über „Widerstand gegen Hitler und die Opposition im 20. Jahrhundert“. Polnische und deutsche Schulklassen spielen lärmend auf dem von Gutsgebäuden umringten Rasenkarree. Daß Gelder aus Deutschland fließen, dokumentieren nicht zuletzt die in Polen beinahe schrullig wirkenden Abfalleimer zur Mülltrennung.

Die schönste schlesische Stadt findet sich heute jedoch auf der sächsischen Seite der Neiße. Vom Krieg weitgehend verschont, hat sich das zu DDR-Zeiten verfallende graue Görlitz nach der Wiedervereinigung zum Musterbeispiel für detailgetreue Restauration entwickelt. Beim Gang durch die Altstadt fühlt man sich in die Zeit alter Postkarten versetzt. Häuser, Plätze, Brunnen, Torbögen, Straßen: Alles wurde nach 1990 liebevoll und aufwendig saniert. Eine Besuchergruppe aus Bayern kommt beim Anblick der Renaissancefassaden am Untermarkt aus dem Staunen kaum heraus. „Ich wußte gar nicht, daß Görlitz so schön ist“, schwärmt eine pensionierte Lehrerin aus Regensburg. Dem Stadtführer scheint die Reaktion nicht fremd. Grinsend erwidert er im Dialekt der Oberlausitz, das gehe vielen Touristen so. 

Auch wenn Görlitz erst 1815 der preußischen Provinz zugeschlagen wurde, ist man sich seines schlesischen Erbes bewußt. Das zeigt sich nicht nur auf den Speisekarten der gutbesuchten Gasthäuser, wo „Schlesisches Himmelreich“, Schlesische Blutwurst und Sauermehlsuppe locken, sondern auch in den zahlreichen Touristenläden. T-Shirts mit schlesischem Adler werden hier ebenso angeboten wie das berühmte blauweiße Bunzlauer Porzellan. Sogar die Sagen Rübezahls, des Riesengebirge-Geistes, dessen Streiche Gerhart Hauptmanns Bruder Carl in einem eigenen Bändchen zusammentrug, liegen in vorderster Reihe aus. Ihr Angebot will die Verkäuferin nicht als „Nepp und Kitsch“ für Touristen verstanden wissen. „Man muß doch die Erinnerung an die früheren deutschen Gebiete im Osten lebendig halten“, erzählt sie. Da gehöre Schlesien nun einmal auch dazu. 

Das sieht man im westlichsten Zipfel Schlesiens, im brandenburgischen Ruhland, ähnlich. Auf dem Marktplatz spielen an diesem Sonntag im Mai die „Schwarzheider Musikanten“, der Ort feiert sein 700jähriges Bestehen. Obwohl die Kleinstadt nur von 1825 bis 1945 zu Schlesien gehörte, ziert der schlesische Adler den Brunnen im Ortskern, um den die Bratwurst- und Bierstände aufgebaut sind, wie selbstverständlich. Und auch auf dem Ortseingangsschild, mit dem die Besucher in Ruhland willkommen geheißen werden, thront der schwarze Adler auf gelbem Grund. „Oberlausitz“ ist in kleinen schwarzen Buchstaben hinter den Stadtnamen geschrieben. Darunter prangt in großer Schönschrift: „Niederschlesien“.