© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Schwarzes Gold für Sammlerherzen
Wachstumsmarkt: Die längst ausgestorben geglaubte Vinyl-Schallplatte erlebt eine Renaissance
Heiko Urbanzyk

Fernsehserienarzt Dr. House hat einen, Fernsehserienanwalt Harvey Specter auch: einen Plattenspieler. Bei New Yorks bestem Serienanwalt mit den 12.000- Dollar Anzügen ziert eine ganze Regalwand mit Schallplatten das Büro. Aufmerksame Zuschauer wissen, daß sich diese Platten auf einem Spieler des Typs „Pro-Ject RPM 1.3 Genie“ drehen, während sich der Jurist nach erfolgreicher Mandatserledigung zur Musik des US-amerikanischen Soul-Sängers Charles Bradley, aber auch der britischen Indie-Rocker The Heavy entspannt. Den Pro-Ject aus der Serie gibt es wirklich, jeder potentielle Plattenliebhaber kann sich das Gerät zur unverbindlichen Preisempfehlung von 365 Euro zulegen. Die Schallpatten im Büro des Erfolgsanwalts sind Ausdruck des Vinyl-Trends der letzten Jahre. Kleine Underground- oder Independent-Label wie auch Weltstars legen ihre Musik wieder im längst ausgestorben geglaubten Format auf. 

Noch ist es die CD, die als physischer Tonträger den Hauptumsatz der deutschen Musikindustrie einträgt. Der Bundesverband Musik-industrie (BVMI) teilt für das Jahr 2016 mit, daß 53,8 Prozent der Gesamtumsätze von 1,59 Milliarden Euro die Silberlinge eingespielt haben; ein Minus von 8,9 Prozent im Vergleich zum Jahr davor. Die Renaissance der Schallplatte sorge weiterhin für Faszination: „Vinyl legte um 40,1 Prozent zu – gegenüber dem Vorjahreswachstum (plus 30,7 Prozent) noch einmal eine Steigerung um 9,4 Prozentpunkte! Die Schallplatte ist damit weiterhin das Wachstumssegment des physischen Geschäftes, gemessen am Umsatzanteil rangiert sie dort inzwischen auf Platz 2 und hat Musik-DVDs und Blu-ray-Videos entsprechend auf Rang 3 verwiesen“, schwärmt der Bundesverband.

Der Wiederauferstehungsprozeß der Schallplatte begann laut BVMI vor zehn Jahren. Seitdem habe sich der Umsatz mehr als verachtfacht. „Ein Ende der Vinyl-Euphorie ist zur Zeit nicht in Sicht.“ Mit 4,4 Prozent Umsatzanteil am Gesamtmusikmarkt bleibt das Vinyl zwar Nische, aber eine mit Potential. In England wurde Ende 2016 sogar mehr Geld für Vinyl als für Musik-Downloads ausgegeben. 

„Musik zum Anfassen“ ist mit 62 Prozent Marktanteil gegenüber Downloads und Streaming-Diensten im Vergleich zu wichtigen anderen Musikmärkten in Deutschland allerdings entgegen weltweiter Trends ohnehin sehr beliebt. „In Schweden zum Beispiel, dem Mutterland von Spotify, wurden bereits 2015 nur noch 19 Prozent der Umsätze mit dem Verkauf physischer Tonträger erwirtschaftet, in Dänemark waren es immerhin noch 31 Prozent, in den USA nur noch 23 Prozent“, teilt der BVMI mit. Allein in Japan sei die Begeisterung für analogen Musikgenuß noch größer als in Deutschland; dort betrug 2015 der Anteil der Einnahmen aus physischen Verkäufen 75 Prozent. 

Da überrascht es kaum, daß der japanische Unterhaltungs- und Elektronikgigant Sony ab März 2018 wieder in einem eigenen Preßwerk in Tokio Platten herstellen möchte. Weil auch jüngere Kunden wieder zur Vinylscheibe greifen, wird für 2017 beim weltweiten Umsatz das Überschreiten der Eine-Milliarde-Dollar-Grenze erwartet.

1989 machte Sony sein Preßwerk dicht, als sich der CD-Trend in Japan abzeichnete. Heute muß ein eigenes Preßwerk her, weil andere Hersteller mit den Aufträgen nicht hinterherkommen. So ändern sich die Zeiten – und Konsumgewohnheiten. Sony hat allerdings durch die knapp 30jährige Produktionspause ein Know-how-Defizit. Es werden nun ältere Mitarbeiter rekrutiert, die noch über entsprechendes technisches Wissen der Schallplattenproduktion verfügen. Sony plant die Neuauflage alter Titel sowie die Veröffentlichung aktueller Künstler auf Vinyl.

Auch in Deutschland werden Musikproduzenten durch den Vinyl-Aufschwung auf die Geduldsprobe gestellt, und zwar vor allem „die Kleinen“. Wer in vinyl-affinen Genres wie Reggae, Techno, Metal Schallplatten in Auftrag gibt, wartet nicht selten drei bis vier, sogar acht Monate bis zur Anlieferung. Natürlich werden die Großen wie Warner, Universal und Sony bevorzugt. Allein in Deutschland soll es nur noch drei große Preßwerke und damit begrenzt Preßmaschinen geben; weltweit sind es etwa 48 Preßwerke, davon 18 in den USA. Neue Werke entstehen erstmals seit dreißig Jahren im australischen Melbourne und eines sogar in Südkorea. 

In einem Hinterhof in Berlin-Marienfelde haben daher zwei Musikliebhaber ihr eigenes Preßwerk aufgebaut. Volkswirt Max Gössler und Wirtschaftsingenieur Alexander Terboven sind Anfang 30, DJs und Party-Organisatoren. Gössler veröffentlicht außerdem ausschließlich Vinyl auf seinem Label Somedate. Für ihn ist das „intakt!“ eine Notgeburt. Die Wartezeiten für Schallplattenpressungen wurden unerträglich, große Auftraggeber bevorzugt.

Gössler und Terboven richten sich vor allem an die kleinen Label, die es in allen Musikrichtungen in ungezählter Menge gibt und die mit Auflagen von 300 bis 400 Exemplaren pressen. Etwa 30.000 Platten können „intakt!“ in ihrem Hinterhof monatlich in Handarbeit herstellen. Kleine Preßwerke wie „intakt!“ gibt es übrigens mehrere in Deutschland; Szenekenner finden diese im Internet oder über Empfehlungen, zum Beispiel in Hamburg und München.

Schallplattenpressen wurden weltweit seit dreißig Jahren nicht mehr produziert, was die Gründung neuer Preßwerke erschwerte. Auch hier kommt seit 2015 die Rettung aus dem Land der ungewöhnlich vielen Liebhaber für „Musik zum Anfassen“: In Alsdorf bei Aachen gründete Erwin Neubauer die Firma Newbilt Machinery. Wartung von CD- und DVD-Produktionsanlagen bestimmte sein gesamtes Berufsleben. Als Neubauer im Jahr 2015 eine gebrauchte Vinylpreßmaschine für den asiatischen Markt überarbeiten soll, entschließt er sich, die alte Technik neu zu bauen, anstatt nur zu restaurieren. Innerhalb von zwölf Wochen liefert Newbilt Machinery heute ein nagelneues Vinyl-Preßsystem für rund 160.000 Euro. Newbilt Machi-nery ist weltweit gefragt. Eine vollautomatische Presse, an der aktuell in Alsdorf gearbeitet wird, ist dann natürlich doch mehr, als alte Technik neu nachgebaut. In Kanada und Schweden laufen ähnliche Projekte.

Käufer des „schwarzen Goldes“ bekommen von den technischen Problemen und Produktionsengpässen nicht unbedingt etwas mit, wenn sie im urigen Szene-Plattenladen, auf Flohmärkten oder bei großen Elektronikketten nach alten und neuen Titeln durch die Plattenständer blättern. Das Eldorado der Vinylsammler ist im Moment allerdings sicherlich die Internetplattform Discogs. Seit dem Jahr 2000 hat sich die kostenlose Online-Datenbank mit rund 280.000 registrierten Mitgliedern als wichtigster Anlaufpunkt für Musikliebhaber etabliert. Hier finden sich nicht nur Diskographien von Musikern und Plattenfirmen, sondern auch akribische Auflistungen sämtlicher dort eingepflegter Auflagen einzelner Tonträger. Angeschlossen ist der Seite, die ursprünglich nur der Verwaltung eigener Tonträgersammlungen gewidmet war, ein „Marketplace“. Sortiert nach Musikstilen, Gruppen, Labels, höchstem/niedrigstem Preis, letzter Aktualisierung, Zustand der Tonträger usw. kann sich hier austoben, wer für seine Sammlung auf der Suche ist. Halbwegs konkrete Zielvorstellungen und Suchbegriffe sollte der Nutzer angesichts von mehr als sechs Millionen registrierten Tonträgern mitbringen. Allein im Sektor Vinyl können derzeit knapp 25 Millionen Schallplatten erworben werden. Die Preise beginnen bei einem Cent und enden auch mal bei rund 8.000 Euro pro Platte. 

Der sogenannte Vinyl Record Day (VRD) am 12. August gilt als medial wirksamer Aktionstag der weltweiten Vinyl-Sammlerszene. Der US-amerikanische Künstler Gary Freiberg erklärte 2002 den 12. August zum VRD, weil an diesem Tag 1877 der Erfinder Thomas Edison den ersten Phonographen in Betrieb nahm. Hierzulande bewirbt der gemeinnützige Vinyl Record Day (VRD) e.V. die Schallplatte durch Konzerte und andere Aktionen.

In Deutschland feiern mittlerweile LP-Sammler den jährlichen Record Store Day (RSD) als internationalen Tag unabhängiger Plattenläden. Dieser findet seit dem Jahre 2007 regelmäßig an jedem dritten Samstag im April statt. 3.000 Händler nahmen dieses Jahr weltweit teil; in Deutschland rund 200. Nur unabhängige Plattenläden dürfen mitmachen, keine Ketten. Der Fokus liegt auf Vinyl. Rare Sonderauflagen kommen extra an diesem Tag in den Handel. 500 exklusive LP-Editionen wurden am RSD allein in Deutschland 2017 veröffentlicht.

Die Kombination aus wachsender Beliebtheit von Vinyl und limitierten Sammlereditionen lockt aber zunehmend Spekulanten. Geschäftemacher suchen früh morgens die Plattenläden auf, kaufen die frisch gepreßten Sammlerstücke auf, um sie kurze Zeit später teurer weiterzuverkaufen (zum Beispiel auf Discogs). „Die eingeschlagene Richtung hat nichts mehr mit unabhängiger Vinylkultur zu tun“, ärgert sich Plattenhändler Markus Lindner vom Prenzlauer Berg. Wie viele andere Händler boykottiert er den Record Store Day mittlerweile. Der Renaissance des Vinyls dürften diese Unstimmigkeiten der Kulturszene jedoch nicht entgegenstehen.