© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Wenn Begriffe umgedeutet werden
Falsches Vokabular: Ein SPD-Politiker mit Migrationshintergrund ruft eine neue Leitkultur aus
Thorsten Hinz

Aus dem Informationsmüll der vergangenen Woche ragten Artikel und Berichte über ein neues Buch heraus. „Ich deutsch – Die neue Leitkultur“. Sein Verfasser Raed Saleh wurde 1977 im Westjordanland geboren und kam 1982 mit seiner großen Familie nach West-Berlin. Mit 18 in die SPD eingetreten, brachte der „begnadete Netzwerker“ (RBB) es zum Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus. Aus seinen Ambitionen auf das Amt des Regierenden Bürgermeisters macht er keinen Hehl. Die Buchpremiere fand als Exorzismus vor der Dresdner Frauenkirche statt: „Pegida hat den Neumarkt besudelt. Ich will Dresden wieder ins richtige Licht rücken – als eine offene, europäische Metropole.“ 

Salehs Thesen sind schlicht. Sein Patriotismus sei „bunt, nicht ethnisch homogen“, der Islam gehöre zu Deutschland, und wenn Jugendliche sich in „Türkendeutsch, Ghettosprache oder Türkenslang“ verständigten, sei das „eine begrüßenswerte Entwicklung“, weil auch Sprache „auf Kreativität und neue Einflüsse angewiesen“ sei. Das agrammatische „Ich deutsch“ ist also nicht als Witz gemeint, sondern soll die Deutschen auf eine Zukunft in sprachlicher, kultureller, ökonomischer Regression vorbereiten. Denn „begrüßenswert“ wäre die „Ghettosprache“ nur, wenn ihre Nutzer fähig wären, problemlos ins Hochdeutsche zu wechseln. Weil die meisten dazu nicht in der Lage sind, bilden sie das Potential für Parallelgesellschaften und dauerhafte Asozialität. Solche „neue Leitkultur“ ist eine Drohung!

Es wäre leicht, Saleh als ambitionierten Scharlatan zu entlarven, doch Bild, Welt, Focus, der Berliner Tagesspiegel, zahlreiche Regionalzeitungen und Rundfunksender feiern ihn als Visionär. „Anti-Sarrazin“, jubelte die taz und richtete den Blick in die Zukunft: „Kann also Raed Saleh die SPD retten?“ Bisher sei der Begriff der „Leitkultur“ eher Konservativen vorbehalten gewesen, soufflierte das Deutschlandradio und übergab dann das Wort dem Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche: Wenn jetzt ein SPD-Politiker mit Migrationshintergrund von deutscher Leitkultur spricht, sei das „eine schöne ironische Wendung“. 

Vor allem ist es ein Beispiel für die Scheinereignisse, Scheindebatten und falschen Begriffe, die den offiziellen Irrsinn in immer neuen Varianten verbreiten. Wobei die Mehrheit der Beteiligten an ihren Part glaubt. Gut möglich, daß Raed Saleh sich für einen Vordenker hält und die Journalisten in ihm einen Garanten dafür sehen, daß doch noch alles gut wird im multikulturellen Land.

Abweichende Meinungen mit Ausgrenzung bestraft

In der gerade veröffentlichten Studie der Otto-Brenner-Stiftung zur medialen „Willkommens“-Orgie im Herbst 2015 (Seite 21 dieser Ausgabe) heißt es, die „gravierenden Dysfunktionen“ hätten sich bereits so tief eingefressen, „daß sie von Journalisten und einzelnen Redaktionen vermutlich für normal gehalten, das heißt gar nicht als solche wahrgenommen oder gar problematisiert werden“. Ideologische Indoktrination und Konformitätszwang sind ihnen zur zweiten Natur geworden.

Wer diesen geschlossenen Meinungskosmos als verrückt und als Gefängnis empfindet, muß sich fragen, wie er sich zu ihm verhalten soll. Jeder hat das spontane Bedürfnis, anschlußfähig an die Umwelt zu sein, mit seiner Wirklichkeitsbeschreibung von anderen verstanden und akzeptiert zu werden. Was bedeutet, daß sie diese Beschreibung für möglich halten oder als sinnvoll akzeptieren. Das ist der Fall, wenn sie sich in das allgemein verbindliche Weltbild und Denksystem, in den herrschenden Diskurs, einfügt. Andernfalls wird sie als feindlich wahrgenommen und mit Ausgrenzung bestraft.

Nach wie vor gilt ein gesellschaftlicher Konsens, der sich mit Begriffen wie Freiheit, Demokratie, Grundgesetz schmückt. Jedoch bedeutet er etwas anderes, als seine Propagandisten und Ausdeuter behaupten und der Durchschnittsbürger trotz Zweifeln noch immer glaubt. Der Paradigmenwechsel läßt sich leicht anhand des politischen Vokabulars nachweisen. Die öffentliche Sprache wird durch immer neue Tabus und Verbote erdrosselt, die Begriffe erfahren eine Umdeutung bis hin zur Verkehrung ins Widersinnige. Der Begriff „Zivilcourage“ zum Beispiel meint im wörtlichen Sinne „Bürgermut“, also die Bereitschaft, für eine gerechte Sache nötigenfalls auch gegen mächtige Institutionen und Mehrheitsverhältnisse einzustehen, dafür Risiken auf sich zu nehmen und die Konsequenzen zu tragen. In der aktuellen Praxis steht der Begriff für staatlicherseits forcierten und subventionierten Konformismus, der sich aggressiv gegen Andersdenkende richtet. 

Wer das durchschaut hat, gerät zunächst in eine Situation, die Hugo von Hofmannsthal 1902 in seinem „Chandos-Brief“ beschrieben hat. Hofmanns-thal war die jugendlich-somnambule Sicherheit in der Sprachfindung abhanden gekommen, es wollte ihm nicht mehr gelingen, die Wirklichkeit „mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen“. Mit der Folge, daß ihm „völlig die Fähigkeit abhanden gekommen (war), über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“, weil „nichts mehr sich mit einem Begriff umspannen (ließ)“. Die Voraussetzung, um sich aus der Wortlosigkeit zu befreien, sei „ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein“, damit in „guten Augenblicken“ die alltäglichen Erscheinungen zu „Chiffren (würden), die mir alles aufschließen“. Der plötzliche Moment der umstürzenden Einsicht, den Karlheinz Bohrer in der „Ästhetik des Schreckens“ am Beispiel Ernst Jüngers herausgearbeitet hat, kündigt sich hier an. 

Hinter diese Einsicht kann man nicht zurück, ohne geistig und moralisch zu verlumpen. Was man als dysfunktional und widersinnig identifiziert hat, kann weder ein Maßstab noch eine Verlockung mehr sein, um Anschluß zu buhlen, sondern nur noch ein Gegenstand distanzierter Betrachtung. Tritt zum Erkenntnisvorsprung die Courage hinzu, ist die Voraussetzung für eine überlegene Lagebeschreibung gegeben.

Im Niedergang zeichnen sich neue Frontlinien ab

Dazu gehört, Sekundäres als sekundär zu behandeln. Die Lächerlichkeit der Grünen-Bundestagsvizepräsidentin; die Gästeauswahl und Gesprächsführung in den Talkshows von Maischberger, Anne Will oder Markus Lanz; die absehbare Konkurrenz zwischen Andrea Nahles und Manuela Schwesig um die SPD-Kanzlerkandidatur 2021 – das sind nur läppische Details, die sich – vielleicht – zu Chiffren verdichten. Zu Chiffren des „Regulationskreislaufs, des Umschaltens der Evolution auf negative Selektion, der die demokratischen Systeme der Industriestaaten in den Niedergang treibt“ (Volkmar Weiss). Im Niedergang zeichnen sich neue Frontlinien ab und treten neue Akteure auf den Plan.

Raed Salehs Buch „Ich deutsch“ in Grund und Boden zu rezensieren wäre, wie gesagt, leicht, würde aber nur eine weitere Scheindebatte eröffnen. Man muß es als Chiffre neuartiger Machtansprüche und bereits eingetretener Machtverschiebungen lesen. Hat man die offiziellen Demokratie- und Kulturdiskurse für sich entsorgt, öffnet sich eine Sichtschneise auf die wirkliche Politik.

Raed Saleh: Ich deutsch – Die neue Leitkultur. Hoffmann und Campe, Hamburg 2017, gebunden, 240 Seiten, 20 Euro