© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Die Verheißung einer schönen neuen Welt
Bolschewismus: Eine Ausstellung in London widmet sich der russischen Oktoberrevolution
Karlheinz Weißmann

Die British Library in London ist weit mehr als eine Bibliothek. Es handelt sich auch um ein Archiv, das neben Exemplaren der Magna Carta die Urschrift des Beatles-Klassikers „Yesterday“ bewahrt, und um eine Art Museum für Geistes- und Ideologiegeschichte. Daher spielt für die aktuelle Ausstellung zur Oktoberrevolution die Menge der Haupt- und Staatsaktionen kaum eine Rolle, und die Zahl der handfesten Überreste in den Vitrinen ist klein (immerhin liegen Sträflingsketten und die Mütze eines Rotarmisten aus). In erster Linie geht es um Dokumente, die den Wandel der kollektiven Mentalität nachzeichnen, und das unter den Stichworten „Hoffnung – Tragödie – Mythen“.

Dem ersten Begriff in dieser Reihe nähert man sich durch die Darstellung der Lage Rußlands am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Gezeigt werden seltene Aufnahmen, die nicht nur etwas vom Leben der unfaßbar reichen Aristokratie einfangen, sondern auch Bilder liefern vom Dasein des aufstrebenden Bürgertums oder der elenden Bauern und Arbeiter. Weiter geht es um die Krise des Regimes, verursacht durch die Niederlage im Kampf gegen Japan und das Aufbegehren des Volkes in der Revolution von 1905.

Wenn man nach den ausgestellten Materialien geht, Zeitungsartikeln, Karikaturen, Drucken, ahnte allerdings kaum jemand etwas von dem, was folgen würde. Dabei wirkten im Untergrund längst Kräfte, die die alte Ordnung vollständig zerstören wollten. In ihren Beständen hat die British Library auch eine Erstausgabe des „Kommunistischen Manifests“. Dessen Verheißungen traute nur eine Minderheit der radikalen Linken. Wenn sie 1917 an die Macht kam, dann nicht wegen der Zwangsläufigkeit der Geschichte, die Marx behauptet hatte, oder der Unterstützung durch die Mehrheit, sondern den überraschenden Handlungsmöglichkeiten, die der Verlauf des Ersten Weltkriegs bot.

Intellektuelle im Ausland fühlten sich angezogen

Was sich die Bolschewiki dann an Rückhalt verschafften, hatte auch mit dem Geschick und der Skrupellosigkeit ihrer Propaganda zu tun. In London wird das vor allem mit Hilfe von Plakaten, Broschüren, Flugblättern und anderen Ephemera anschaulich gemacht. Auffallend ist, wie avantgardistisch die Bildsprache einerseits war, wie geschickt andererseits die Überlieferung genutzt wurde, um die analphabetische Mehrheit zu erreichen. Während man hier entschlossen mit Konventionen brach, sich moderner künstlerischer Ausdrucksformen bediente, vor allem der Abstraktion, schlüpfte da der heldenhafte Rotarmist oder gleich Trotzki selbst in die Rolle des populären Drachentöters St. Georg; Bilder der revolutionären Führer wurden bei Aufmärschen wie weiland die des Zaren oder wie Ikonen mitgetragen, und die Banner des neuen Staates erinnerten trotz des revolutionären Rot mit ihrer Dekoration an die Kirchenfahnen der Orthodoxie.

Typisch ist insofern das Blatt eines Wandkalenders aus den 1920er Jahren: ein Foto Lenins im Zentrum, barock gerahmt, flankiert von zwei allegorischen Gestalten, die eine in mittelalterlicher Rüstung mit Hammer und Sichel als Wappen und rotem Wimpel am Lanzenschaft, die andere in zeitloser Volkstracht.

Was die Modernität betrifft, hat sie ganz wesentlich zur Faszination des kommunistischen Projektes außerhalb Rußlands beigetragen. Gerade Intellektuelle fühlten sich angezogen, nicht nur von dem Versuch, eine Utopie in die Praxis umzusetzen, sondern auch von einer Ästhetik, die so entschlossen mit dem Herkommen brach und verhieß, daß die neue Welt nicht nur neu, sondern auch auf eine unerwartete Weise schön sein werde.

Das Lager der „Weißen“ war uneinheitlich

Dasselbe wird man im Hinblick auf den zweiten Aspekt nicht sagen können. Die kommunistischen Parteien, die bald nach dem Sieg der Bolschewiki überall in Europa, Asien und Amerika entstanden, kopierten zwar die symbolischen Muster mitsamt Massenballett, erhobener Faust, Leninkappe und Proletkult, aber es blieb immer ein gewisses Befremden. Das war darauf zurückzuführen, daß der Sowjetmensch letztlich kein universales Muster bot, sondern auf Besonderheiten zurückging, die sich letztlich aus der russischen Lage erklärten. Obwohl die bolschewistische Revolution für Rußland vor allem ein großer Gewaltakt war, eine „Tragödie“, die Millionen Menschen das Leben kostete, hat der Widerstand gegen den Umsturz erst nach und nach an Stärke gewonnen. Von vornherein gab es eine Abwehr, die sich aus der Treue zum Zaren, zur bestehenden Verfassung, zur Religion, aber auch aus der Ablehnung der totalitären Vorstellungen speiste.

Aber das Lager der „Weißen“ war uneinheitlich. Wie die Exponate der Ausstellung deutlich erkennen lassen, reichte das Spektrum von der Forderung nach einer Restauration über den Plan, ein liberales System zu errichten, bis zu Konzepten eines „anderen“ Sozialismus. Das, was man hier an Gegen-Propaganda zustande brachte, war der bolschewistischen nie gewachsen. Zu häufig setzte man naiv auf alte Loyalitäten, versuchte umständlich zu erklären oder ging dazu über, die Muster des Gegners zu kopieren und inhaltlich umzukehren.

Der Antibolschewismus verschwand natürlich nicht nach dem Sieg des Bolschewismus. Aber der Triumph der „Roten“ in Rußland und die Verheißung, eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte einzuleiten, in der alle Herrschaft, alle Ungleichheit, alle Ungerechtigkeit aufgehoben sein werde, hat doch eine Anziehungskraft gewonnen, die heute kaum mehr vorstellbar ist.

Wichtig dafür war, daß es nicht einfach um eine politische Phantasie ging, sondern um einen „Mythos“ im Sinne Georges Sorels: ein Kampfbild, das die großartige Szene vor Augen führte, in der die, die für das Kommende stehen, in einer apokalyptischen Schlacht gegen jene fechten, die für das Alte stehen. Die Auseinandersetzung ist schwer, sie fordert Opfer – Opfer, denen keine Erlösung, kein Himmel verheißen werden kann, nur, daß ihr Opfer nicht umsonst war, denn am Ausgang der Schlacht ist kein Zweifel. Es hat viele Jahrzehnte gedauert, bis dieser Glaube endlich erloschen war.

Die Ausstellung „Russian Revolution. Hope, Tragedy, Myths“ ist bis zum 29. August in der British Library,  96 Euston Road, in London zu sehen. Der empfehlenswerte Katalog mit 224 Seiten kostet 25 britische Pfund.

 www.bl.uk