© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

150 Jahre „Das Kapital“
Das verdammte Buch
Konrad Löw

Einige Monate ist es her, da erreichte mich ein bemerkenswerter Anruf. Am anderen Ende ein entfernter Verwandter, der mich höchst verwundert davon in Kenntnis setzte, daß der kleine Laden des Klosters, das zu unserem Pfarrverband gehört, Marxens „Kapital“ vertreibe. Ich: „Unser Kardinal heißt Reinhard Marx. Er hat ein Buch verfaßt, betitelt ‘Das Kapital’. Sicher liegt da eine Verwechslung vor.“ Doch nein! – beharrte mein Informant. Und so machte ich mich auf den Weg nach dem Benediktinerkloster Schäftlarn, um den Dissens zu klären und je nach Ergebnis den Verantwortlichen zu sprechen.

Dazu kam es dann auch, denn der Verfasser des stattlichen Werkes heißt mit Vornamen Karl und dieses „Kapital“ ist vor 150 Jahren erschienen. Wie erwartet war kein Gespräch über den Inhalt möglich, denn der Repräsentant des Klosters hat andere Interessen. Aber müßte man nicht angesichts der Reputation des Werkes und des Verfassers über Grundkenntnisse verfügen, um bescheidenen Ansprüchen an die Allgemeinbildung zu genügen? Und in der Tat: „Das Kapital“ ist zwar nicht so berühmt wie das „Manifest der Kommunistischen Partei“, auch von Marx, aber jeder Zeitungleser, der mehr liest als Todesanzeigen, hat schon davon gehört. Also: Was bietet das Opus magnum mit seinen knapp tausend Seiten? Und warum wird es nicht gelesen?

Marx wäre nicht der namhafteste kommunistische Revolutionär, wenn er mit seinem Hauptwerk nicht nachgewiesen hätte, daß im Kapitalismus verwerfliche Ausbeutung allgegenwärtig sei. Richtig? Ja und nein – lautet die widersprüchliche Antwort. Zwar Ausbeutung, aber nicht ungerecht! Spätestens hier verläßt den Leser die Geduld, und er verbannt das Buch dorthin, wo die Titel stehen, die seitens Dritter eine universale Bildung vermuten lassen.

Vertiefen wir das Gesagte: Den Ausgangspunkt bildet bei Marx „Die Ware“. Wie allgemein üblich unterscheidet er zwischen dem Gebrauchswert einer Ware und dem Tauschwert. Wer mit einer Sache Handel treiben will, interessiert sich für den Tauschwert. Das ist für jedermann einleuchtend. Doch schon im zweiten Kapitel kommt ein Sprung, der den Atem raubt. Auf die Frage: Wie läßt sich der Tauschwert ermitteln? antwortet Marx: „Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ‘wertbildenden Substanz’, der Arbeit.“ Dabei komme es nicht auf die reale Arbeitszeit dieses oder jenes „faulen oder ungeschickten“ Arbeiters an, sondern auf die „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“. Wenn dem so ist, ist der Warentausch nach der objektiven Wertlehre ein Kinderspiel, was Marx an vielen Beispielen vor Augen führt: „z Ware A = u Ware B oder = v Ware C“. So geht es weiter über Seiten. Wer nicht sehr selbstbewußt ist, kapituliert nun.

Die meisten Kommunisten hatten das Buch nicht gelesen. Denn wer das Buch verstanden hat, kann kein Marxist mehr sein. Zu groß ist die Zahl der immanenten Widersprüche und der zur Wirklichkeit, daß sie nicht den Glauben an Marx zerstören müßten.

Doch damit nicht genug der Zumutung: Die objektive Wertlehre bestimmt auch den Wert der menschlichen Arbeitskraft. Je mehr Arbeitszeit zur Bereitstellung menschlicher Arbeitskraft erforderlich ist, um so höher – immer nach Marx – ihr Wert. Der Unternehmer kauft den Arbeiter und bezahlt seinen „wahren Wert“. Äquivalent wurde gegen Äquivalent ausgetauscht. Wie kann da der Unternehmer reich werden?

Marx ist es, der das Geheimnis der Plusmacherei entdeckt hat: Der Kapitalist hat den Arbeiter zu seinem wahren Wert gekauft (siehe oben) und darf ihn während der Laufzeit des Vertrages nach Belieben nutzen, auch viel intensiver, als es dem Kaufpreis entspräche. Und die Differenz ist die Ausbeutungsrate. Lesen wir die Worte des Meisters: „Der Geldbesitzer hat den Tageswert der Arbeitskraft bezahlt; ihm gehört daher ihr Gebrauch während des Tages, die tagelange Arbeit. Der Umstand, daß die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, ... ist ein besonderes Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer.“ Das ist Marx, wie ihn nicht einer unter einhundert Marxisten kennt. Dem Arbeiter geschieht im Kapitalismus kein Unrecht!

Natürlich ist das nicht sein letztes Wort. Der Schluß des Buches trägt apokalyptische Züge. Der Würgeengel trifft die vernichtende Feststellung: „Wenn das Geld (...) ‘mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt’, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend.“ „Gerecht“ und zugleich „schmutztriefend“! Warum „beweist“ Marx zunächst, daß der Geldbesitzer kein Unrecht tut, um ihn nachher in die tiefste Hölle zu verbannen? Die Antwort liegt auf der Hand. Marx ist Revolutionär durch und durch. Da – nach Marx – im Kapitalismus alles mit rechten Dingen zugeht (Gleichwert gegen Gleichwert), kann es in dieser Gesellschaftsformation keine Verbesserung, letztlich auch nicht durch starke Gewerkschaften, geben. Gerecht läßt sich nicht steigern. Der einzige Weg zur Behebung des Elends, an dem alle Anständigen Anstoß nehmen, ist die blutige kommunistische Revolution, die keinen Stein auf dem anderen läßt. Sie ersetzt die bestehende Gesellschaftsformation durch eine gänzlich andere. An die Stelle des Kapitalismus tritt der Kommunismus.

Schon dem, der bis hierher gefolgt ist, haben sich fundamentale Einwände aufgedrängt. Die Waren haben nach Marx einen objektiven Wert. Doch wie läßt sich die Zahl der Stunden ermitteln, die in ihr stecken? Tatsächlich werden die Waren gemäß der subjektiven Wertschätzung getauscht. Ein Tausch (Kauf) kommt nur zustande, wenn dem Käufer das Geld weniger wert ist als die Ware und umgekehrt. Völlig wirklichkeitsfern ist die Behauptung, die Arbeitskraft sei eine Ware wie jede andere auch, weshalb sich ihr Wert danach bestimme, wie viele Stunden in sie investiert worden seien. Dementsprechend sei die Entlohnung. Da die objektive Wertlehre handgreiflich falsch ist, heute deshalb auch keinen Vertreter mehr findet, wäre es müßig, sie ausführlich zu widerlegen. Damit fällt „Das Kapital“ wie ein Kartenhaus in sich zusammen, selbst wenn Teile davon richtig sind.

Anläßlich einer Tagung „Hundert Jahre ‘Das Kapital’“, veranstaltet vom ZK der SED in Ost-Berlin, hieß es im Grußwort des Vertreters der Kommunistischen Partei Kanadas: „Hätte man das eine Buch zu wählen, das mehr als jedes andere den Lauf der Weltgeschichte beeinflußt hat, wo würde man zweifellos ‘Das Kapital’ von Karl Marx wählen (...) Würden Sie die Mitglieder der Kommunistischen Partei (...) eines beliebigen Landes fragen, ob sie ‘Das Kapital’ gelesen haben – ich glaube, Sie stimmen darin mit mir überein –, dann würden die meisten mit ‘nein’ antworten, und fragte man sie danach, was sie über das Werk wissen, würden die meisten erwidern: ‘sehr wenig’.“

Diese Einsicht spricht für jene Kommunisten und Sozialisten, die sich dazu bekennen. Denn wer das Buch verstanden hat, kann kein Marxist mehr sein. Zu groß ist die Zahl der immanenten Widersprüche und der Widersprüche zur Wirklichkeit, daß sie nicht den Glauben an Marx zerstören müßten.

War sich Marx der schweren Mängel bewußt? Sachlichen Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern ging er zeitlebens aus dem Weg. Dazu war er unfähig. Hierin stimmen alle Biographen überein. Die Erfahrungen des Carl Schurz sind typisch: „Keiner Meinung, die von der seinen wesentlich abwich, gewährte er die Ehre einer einigermaßen respektvollen Erwähnung. Jeden, der ihm widersprach, behandelte er mit kaum verhüllter Verachtung.“ Behauptungen zu wiederholen, wo Beweise gefragt sind, ist ein probates Mittel für jene, deren Aufgabenstellung nicht Erkenntnis ist.

„Das Kapital“ wurde geschrieben, um die Richtigkeit einer vorab aufgestellten These zu „beweisen“, nicht um sie zu prüfen. Freilich, Spaß macht eine wissenschaftliche Arbeit, deren Stützpfeiler Annahmen und Widersprüche sind, nicht. Daher ist es nur zu verständlich, daß sich hinter dem Werk ein persönliches Drama verbirgt, daß er es „Alp“, „das verdammte Buch“, „Saubuch“, „Scheiße“, „ökonomische Scheiße“ tituliert und jeden Vorwand begrüßt, der eine Verzögerung rechtfertigt, daß er sich nebenbei oder über Jahre hinweg mit Dingen beschäftigt, für die ein leidenschaftlicher Revolutionär, der eine Offenbarung niederschreibt, keine Zeit haben dürfte.

Der Inhalt von rund eintausend Seiten wurde oben auf wenige Zeilen komprimiert. Marx war sich seiner Zeilenschinderei wohlbewußt, Freund Engels hatte ihn dazu animiert: „Die Hauptsache ist, daß Du erst wieder mit einem dicken Buch vor dem Publikum debütierst“. In einem anderen Brief macht es Engels noch deutlicher, daß es auf den Inhalt gar nicht ankommt: „n’importe quoi“. Auch die Qualität spielt keine Rolle: „Die Schwächen, die Dir auffallen, finden die Esel doch nicht heraus.“ Marx selbst bekennt mit einer Offenheit, die einem die Stimme verschlägt, das Mißverhältnis zwischen Umfang und Inhalt: „Ich dehne diesen Band mehr aus, da die deutschen Hunde den Wert der Bücher nach dem Kubikinhalt schätzen.“

Spaß macht eine wissenschaftliche Arbeit, die auf Annahmen und Widersprüchen ruht, nicht. Daher ist es nur zu verständlich, daß sich hinter dem Werk ein persönliches Drama verbirgt. Marx begrüßte jeden Vorwand, der eine Verzögerung rechtfertigte.

Wie erklärt sich die hohe Reputation des Buches angesichts der vielen und vielfältigen Mängel und angesichts der Tatsache, daß es kaum gelesen wurde? Kein Marx-Biograph wird zögern, den Satz zu unterschreiben: Ohne Engels kein Marx und auch kein „Kapital“. Über Jahrzehnte hing Marx am Tropf des Kapitalisten Friedrich Engels, dem auch um die Verbreitung des Buches allergrößte Verdienste zukommen: als Person, als Rezensent und schließlich als graue Eminenz der SPD: Der kluge Kapitalist Engels bewundert den Revolutionär.

Der Marx-Biograph Fritz Raddatz schildert anschaulich: „Das Unglaubliche geschieht, das in der Weltliteratur wohl einmalige – unter wechselnden Pseudonymen und auch unter realen Namen (...) und in allen erreichbaren Zeitungen publizieren der Autor und sein engster Mitarbeiter [Engels] selbstverfaßte Kritiken, für sozialistische Blätter lobende, für bürgerliche Blätter vernichtende. Soziale Bedeutung konnte das Buch erst erlangen, nachdem es sich eine expandierende Massenpartei als Bibel hatte aufschwatzen lassen.“

Engels: „Die Sozialdemokraten werden nicht umhinkommen, ‘Das Kapital’ zur Bibel zu machen.“ In diesem Zusammenhang wird der nervus rerum, das liebe Geld, stets übersehen. Friedrich Engels, der Kapitalist im Hintergrund, hat nicht nur einzelnen führenden Sozialdemokraten Geld zukommen lassen, sondern auch der Partei, die er sogar in seinem Testament bedacht hat. Auf dem Hallenser Parteitag 1890, auf dem sich die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannte, wurde Marx als „unser großer Führer“ gefeiert – den Vorgaben Engels’ folgend. Die Aufspaltung in SPD und KPD stand noch bevor. Ab 1919 wäre die KPD Marxens Partei gewesen. In der DDR wurde Marx offiziell als der größte Deutsche gefeiert. 






Prof. em. Dr. Konrad Löw, Jahrgang 1931, lehrte Politikwissenschaften, von 1972 bis 1975 an der Universität Erlangen-Nürnberg und von 1975 bis 1999 an der Universität Bayreuth. Seine Arbeitsschwerpunkte waren Grundrechte, Marxismus, Kommunismus, Judentum und Antisemitismus. Seit 2000 ist er Kuratoriumsmitglied des Forums Deutscher Katholiken. Löw ist Autor des Buches „‘Das Volk ist ein Trost’. Deutsche und Juden 1933–1945 im Urteil der jüdischen Zeitzeugen“.

Foto: Karl Marx als Moses in einer französischen Karikatur: „Das Kapital“ als Bibel aufgeschwatzt