© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Im Clan der Gläubigen
Über das Recht des Individuums im Islam und die Vermeidung von Unterscheidungen
Lutz Schröder

Erst als ihre Herrschaft über Indien zu Ende ging, in den 1930ern, verschaffte sich die britische Administration, sozialwissenschaftlich angeleitet, zumindest partiell tiefere Einblicke in jenes fremdartige Pluriversum der Ethnien, Kulturen und Religionen, auf dem das Empire ruhte. Dabei rückten den Historikern und Soziologen Ihrer Majestät schon aus der arabischen Welt bekannte, eigentümliche Kasten- und Clanstrukturen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. 

Als bei weitem auffälligste, aber nicht untypische, lediglich extremste Erscheinungsform unter den nah- und fernöstlichen „Criminal Tribes and Castes“ galt ein imposanter, vier Millionen Mitglieder umfassender „Verbrecherclan“, der schon in vorbritischen Jahrhunderten jedem Versuch widerstand, sich gesellschaftlich integrieren zu lassen. Die blutsverwandten Stammesbrüder und ihren Anhang zu „friedlichen“ Mitbürgern zu erziehen, sei keiner Regierung je geglückt, wie der Verfasser einer kriminalsoziologischen Studie aus dem Jahr 1934 resignativ feststellte.

Eine Kultur der Differenz wurde vom Islam verhindert

Was britische Forscher damals mit oftmals ungläubigem Staunen neugierig sezierten, war eine von keinem exotischen Zauber mehr ablenkend illuminierte, barbarische Gegenwelt, das ganz Andere der europäischen Zivilisation. Um eine ähnliche Erfahrung zu machen, mußte Max Weber, einer der Gründerväter der deutschen Soziologie, nicht nach Indien reisen. Am Heidelberger Schreibtisch sitzend, bestimmte er den Unterschied des westlichen zum islamischen Recht in der Rationalität, die sich im Einklang mit der funktionellen Differenzierung neuzeitlicher abendländischer Gesellschaften befunden habe, während eine vergleichbare Kultur der Differenz und Individualisierung durch die islamische Religion verhindert worden sei. Was wiederum, wie der emeritierte Hamburger Rechtstheoretiker Karl-Heinz Ladeur im Anschluß an Max Weber ausführt, mit den tribalistischen Ursprüngen dieser Religion zu tun habe (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1/2017). 

Seit seiner Geburtsstunde vor 1.500 Jahren sei der Islam das Bindeglied gewesen, das exklusiv den Zusammenhalt arabischer Stämme festigte, die sich während ihrer mittelalterlichen, durch permanente Abgrenzung gegen „Ungläubige“ gekennzeichneten Expansionsphase im Konflikt auch mit städtischen Lebensformen befanden, auf die sie bei ihrem Eroberungszug trafen, der sie bis ins südliche Spanien führte. Die arabischen Stammesgemeinschaften hätten sich im Verlauf dieses Prozesses in die identitäts- und kulturbildende Gemeinschaft der Gläubigen, die „Ummah“, verwandelt, die das durch den Clanverband determinierte kollektivistische, holistische Welt- und Menschenbild religiös legitimiert, verfestigt und bis heute bewahrt habe. 

Die Form des Gemeinschaftsverbandes habe den Gläubigen zugleich den Weg in die Moderne versperrt. Denn der Unmittelbarkeit persönlicher, patriarchalischer Herrschaft entspreche die Unmittelbarkeit der Beziehung des einzelnen zu Gott. Staatliche Institutionen mit eigener Legitimität im Gegensatz zum religiös geregelten Gemeinschaftsleben und eine gesellschaftlich autonome Sphäre jenseits der Ummah seien nicht entstanden. Dem „islamischen Recht“ verblieb daher nur die Aufgabe, die Individuen in eine „religiös übergreifende Ordnung“ einzufügen. 

Der Staat, „wenn man ihn überhaupt so nennen kann“, werde allein legitimiert durch seine Rolle als Verteidiger des Islam, nicht aus seiner Stellung in und gegenüber der Gesellschaft. „Man muß daran erinnern, daß der Prophet Mohammed selbst einer tribalen Gesellschaft angehörte und der Islam nicht nur keine Staatstheorie, sondern auch keine Staatspraxis hatte.“ Unter diesen Voraussetzungen sei erklärlich, warum in keinem arabischen Land eine Öffentlichkeit entstanden sei, in der über „die ‘gemeinsame Sache’ gestritten werden kann“. Was wiederum notwendig aus der religiösen Abwertung des Individuums und seiner Rechte resultiere. 

Auf die Verhaltenskontrolle privater Individuen fixiert   

Die abendländische „Freiheit des Selbstseins“ (Hegel) war im Islam, dessen Recht nicht einmal die Vertragsfreiheit kenne und das auf die religiös-moralisch aufgeladene Verhaltenskontrolle privater Individuen fixiert sei, nie vorgesehen gewesen. So fehle es an sich auf dem Forum vollziehender wechselseitiger Selbstbeobachtung und Kritik – wie das klassische athenische Beispiel lehre –, die jenes „gesellschaftliche Wissen“ generiere, das in der europäischen Geschichte mit der christlichen Religion kollidierte und das sich schließlich von ihr emanzipierte. 

Im Islam hingegen galten Städte als Orte der Korruption, des Wohllebens und des Verfalls, denen gegenüber stets der Mythos von der „unmittelbaren Solidarität der Stämme“ und der „Leere der Wüste“ beschworen werde. Offenbar, weil ein primitives Kulturniveau Repression und Sozialkontrolle erleichtert, wie nicht nur die Roten Khmer wußten.    

Das Fehlen von Formen städtischer Kultur, zu der auch die mühsame Einübung von Toleranz zähle, die, bezogen auf den „toleranten Islam“, natürlich nur eine „im Westen verbreitete Wunschvorstellung“ sei, mache auch heute noch in den islamischen Staaten die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum demokratischen politischen System „schwer vorstellbar“. Die Alternative zur vermeintlichen „Geschlossenheit“ tatsächlich höchst fragiler Staatsgebilde, die politisch-weltanschaulichen Pluralismus um den Preis des eigenen Untergangs nicht dulden, die keine Opposition und keine Auseinandersetzung unterschiedlicher „Identitäten“ zulassen dürfen, sei dann in letzter Konsequenz der „zerstörerische Terrorismus“. Konsequent ihrem tribalistischen Erbe verpflichtet, strebten die neueren islamistischen Bewegungen eine „personale Ordnung jenseits der Staatlichkeit“ an. 

Woher der sich erfreulich weitgehend von Träumereien bundesdeutscher Islamversteher frei haltende Analytiker Ladeur gleichwohl den Optimismus nimmt, um zum Ausklang seiner Studie über die „Vermeidung der Unterscheidungen“ im islamischen Recht zu behaupten, der totalitär disponierte Islam werde nicht nur lernen, sich mit dem Pluralismus der Postmoderne zu arrangieren, sondern am „Ende einer Anerkennung des Realen“ sogar sich selbst auflösen, um ein „postislamisches Subjekt“ zu kreieren, bleibt allerdings sein großes Geheimnis.