© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Die Guevaras waren Reaktionäre
Der Bruder von Che Guevara erzählt über ein Leben im Schatten einer Politik-Ikone
Paul Leonhard

Es war Provokation pur: Ausgerechnet Ernesto Che Guevara, den Archetyp von Rebellion, Redlichkeit, Kampf, Gerechtigkeit und Ideal, hatte Mercedes-Benz 2012 als Träger einer Werbekampagne in Las Vegas ausgewählt und damit ein kleines Erdbeben ausgelöst. Daimler-Vorstandschef Dieter Zetsche stand unter einem gigantischen Konterfei von El Comandante, dessen schwarzes Barett statt des roten Sterns das Logo des Automobilherstellers trug.

Genüßlich beschreibt Juan Martín Guevara in seinem Buch „Mein Bruder Che“ diese Episode: „Der kreative Kopf, der diese Idee hatte, war ein Genie. Er traf zwei entgegengesetzte Ziele gleichzeitig: Die Anticastristen von Miami waren fassungslos, als sie sahen, daß Mercedes-Benz sein Image mit dem eines ‘sadistischen Serienmörders’ verknüpfte, und die anderen fanden es empörend, daß Mercedes-Benz einen makellosen Menschen für vulgäre kommerzielle Zwecke ausbeutet und auch noch ausgerechnet zur Förderung des Absatzes von Luxuslimousinen.“ Der öffentliche Aufschrei in den USA war schließlich so groß, daß der Konzern die Kampagne abbrechen und sich entschuldigen mußte. Buchautor Guevara aber hat diese Episode in seinem Gedächtnis gespeichert, weil sie ihm Mut macht: „Che kann uns aufrütteln. Man muß ihn dazu nur ins rechte Licht rücken.“

Juan Martín Guevara ist der kleine Bruder des berühmt-berüchtigten Ernesto Che Guevara. Und er bricht als erster der Familie das selbst auferlegte Schweigen seit dessen gewaltsamem Tod vor fünfzig Jahren. Es sei an der Zeit, der Welt zu enthüllen, wie Che wirklich war, schreibt der heute 74jährige: „Vielleicht kann und muß ich das Medium sein, das sein Denken und seine Vorstellungen weiter verbreitet.“

Che war ein unruhiger und zielloser junger Mann

In Kuba wird Che bis heute als der perfekte Mensch heroisiert. In der Stadt Santa Clara steht ein riesiges Che-Guevara-Monument, während unweit jene Familien in Hütten hausen, die dieser kommunistische Heilige einst bei seinem Versuch, eine gerechte Gesellschaft aufzubauen, enteignet hat. Nach dem Sieg der Revolution bekam Che Guevara die Chance, als Präsident der Nationalbank und Industrieminister das Land grundlegend zu verändern. Daran scheiterte er ebenso wie später beim Versuch, die kubanische Revolution in den Kongo und dann nach Bolivien zu exportieren.

„Ich wuchs in Ernestos Schatten auf“, bekennt der 15 Jahre jüngere Bruder: „Bis 1956 war ich nur Juan Martín Guevara, El Tin, Patatín oder Tudito, wie meine Kosenamen lauteten. 1956 wurde ich allmählich der Bruder des Revolutionärs, Weggenossen Fidel Castros und furchtlosen Kämpfers Che Guevara. Und danach der einer Legende.“

Seine Eltern schildert Guevara als ein „exzentrisches und immerzu abgebranntes Pärchen, das fortwährend dem Geld hinterherlaufen mußte“ und im Gegensatz zu ihren wohlhabenden und angesehenen Familien „rein gar nichts Konservatives an sich hatten“. Ihr Leben als „liberale Bohemiens“ endete mit den Asthma-Anfällen ihres Erstgeborenen. Dessen Krankheit „hat uns zu Nomaden gemacht“, schreibt Guevara.

Che habe, so Guevara, die widersprüchlichen Charaktereigenschaften der Eltern geerbt: das Nachdenkliche und dennoch mutig Unternehmerische vom Vater, der wie sein Sohn letztlich in allem scheiterte, und die Bestimmtheit und Beharrlichkeit seiner Mutter. Gleichzeitig engagierten sich die Eltern politisch. Auf einem durch und durch politisierten familiären Boden wächst ein unruhiger und zielloser junger Mann heran, der die Welt entdecken will und nach zwei Touren durch Lateinamerika schließlich in Mexiko einem Mann begegnet, der ihm eine Aufgabe gibt: Raúl Castro. Durch diesen lernt er dessen großen Bruder Fidel kennen, der den Arzt sofort für seine im Entstehen begriffene Guerillatruppe anwirbt.

Die weitere Geschichte ist bekannt, nicht aber das Unverständnis seiner Eltern, speziell der Mutter, darüber, daß ihr Sohn gegen die Ungerechtigkeit im entfernten Kuba kämpft, nicht aber in der argentinischen Heimat. Überdies hat die wachsende Popularität Folgen. „Meine Eltern hatten aufgehört, einfach die Guevara Lynch de la Serna zu sein, und wurden zu den Eltern von Che“, schreibt Guevara, der sich heute noch fragt, ob er wegen seines politischen Engagements oder eben nur als Bruder von Che acht Jahre in argentinischen Gefängnissen saß. Im selben Maß, wie die anfangs sympathisch wirkende kubanische Revolution nach links driftete, begann sich ein tiefer Graben mitten durch die Familie aufzutun. „Die Guevaras waren Reaktionäre“, hält Guevara fest, der sich selbst als Marxist-Leninist und Guevarist bezeichnet.

Ziel des Buches, bei dem die französische Journalistin Armelle Vincent dem Lastwagenfahrer Guevara die Feder führt, sei, „daß man meinen Bruder jenseits des Mythos kennenlernt“. Es sei „schrecklich simplifizierend“, dessen literarische Produktion auf das Tagebuch einer Motorradreise zu reduzieren, wenn er doch dreitausend Seiten Schriften hinterlassen hat. Sein Bruder habe, als er zwischen 1959 und 1965 das Format und die Obliegenheiten eines Staatschefs hatte, eine gerechte Gesellschaft aufbauen wollen, die nicht auf Gewinn, sondern auf menschlichen Prinzipien und den Idealen Anständigkeit, Solidarität und Brüderlichkeit beruht.

Guevaras Buch besticht dadurch, daß der Erzähler ohne Rücksicht auf zeitliche Abläufe oder Wiederholungen fabuliert und daß er selbst Erlebtes mit Familienklatsch, Briefen, Verschwörungstheorien und Geschichten mischt, die er gehört oder gelesen hat. Es entsteht ein stimmungsvolles Bild einer weit verzweigten großbürgerlichen argentinischen Familie, die mit diesem Ernesto Che Guevara nie so richtig warm wird, die aber dessen politische Entwicklung, wenn auch häufig mit Unverständnis, interessiert verfolgt und die ihm zu helfen versucht, wenn er in Schwierigkeiten gerät.

Juan Martín Guevara, Armelle Vincent: Mein Bruder Che. Verlag Klett-Cotta Tropen, Stuttgart 2017, gebunden, 352 Seiten, Abbildungen, 22 Euro