© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Warum wir von den Ameisen lernen können
Das Recht auf Irrtum ist unverzichtbar für neue Erkenntnisse und jeglichen Fortschritt
Dirk Meyer

Vor dreißig Jahren erschien im Hanser-Verlag ein heute nur noch antiquarisch erhältliches Buch mit dem provokanten Titel „Das Menschenrecht auf Irrtum – Anleitung zur Unvollkommenheit“. Der Autor Bernd Guggenberger, heute Rektor der Lessing-Hochschule zu Berlin, bewies schon damals seinen ganzheitlich-synthetischen Denkansatz: „Fast alles, was er geworden ist, fast alles, was er erworben hat, verdankt der Mensch der Irrtumsfähigkeit, dem Prinzip von Versuch und Irrtum“, so der Soziologe und Philosoph.

Der Zeitgeist ist aber mehr denn je geprägt durch eine Gegenwartsorientierung und ein Handeln, das an kurzfristigen Erfolgen orientiert ist. Dem entgegen stehen fehlerfreundliche Strukturen mit einem bewußten Verzicht, jegliche Produktivitätsreserven im Sinne kurzfristiger Resultate erschließen zu müssen.

„Errare humanum est – Irren ist menschlich“. Damit wird ein an sich vermeidbarer Fehler entschuldigt. Gerade unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt wird die nicht erfolgreiche Abweichung vom herrschenden Standard – ein Fehler im herkömmlichen Sinne – zumeist als kostenträchtiger Schaden oder Verschwendung gewertet und gegebenenfalls bestraft. Diesem Urteil liegt die Vorstellung zugrunde, daß der Fehler hätte vermieden werden können und daß aus ihm keinerlei bzw. keine angemessene Nutzenstiftung hervorginge. Damit geht dieser Denkansatz von einer Welt aus, in der es weder Unsicherheit noch Gefahren gibt. Neues gibt es jedoch unter dem Postulat der Sicherheit nicht zu entdecken – die Zukunft wäre bekannt. Es handelt sich um eine vorbestimmte Welt, die keine Entscheidungsfreiheit zuläßt und in der ethisches Handeln mangels Alternativen nicht möglich, zugleich aber auch nicht notwendig ist.

Die Weisheit „Aus Schaden wird man klug“ weist hingegen auf einen aktiven, positiv gerichteten Prozeß des Lernens hin. In einer Welt der Unsicherheit ist der vermeintlich nutzlose und aus Sicht der Schaden-/Kostenträger durchaus unerwünschte Fehler das unvermeidliche Gegenstück zum Gelingen und zum Fortschritt. Fehlerfreundlichkeit wird zum Gegenstück der Tüchtigkeit. Zum einen dient die Fehlerfreundlichkeit dem „Elastischermachen der Tüchtigkeit“, zum anderen setzt sie einer eng verstandenen Tüchtigkeit Grenzen. Während die Selektion vergangenheitsbezogen aus dem Fundus vorhandener Alternativen die beste aller Möglichkeiten im Dienste der Tüchtigkeit auswählt und alle anderen somit ausschließt, läßt die Fehlerfreundlichkeit – biologisch: die Mutation – zukunftsorientiert Abweichungen zu. Gemäß einer nachhaltigen Entwicklung kann Raum für Alternativen zugunsten einer entwicklungsoffenen Zukunft entstehen.

Abweichungen müssen möglich sein

Eine beispielhafte Anwendung zur Fehlerfreundlichkeit liefert der „Ameisenalgorithmus“, der sich auch auf technische oder ökonomische Problemstellungen übertragen läßt. In Anlehnung an eine Naturbeobachtung zeigt er das Phänomen eines sehr erfolgreichen, selbstorganisierenden Sozialsystems, das seinen Erfolg vornehmlich durch seine fehlerfreundlichen Strukturen erhält. Es ist durch die Koordination über einfache Regeln gekennzeichnet. Diese müssen dem Einzelnen keinesfalls bewußt noch verständlich sein. Lediglich das Befolgen dieser Regel ist die Voraussetzung für eine gemeinschaftlich erfolgreiche Bewältigung von komplexen Problemen.

Ameisen scheiden auf dem Weg ihrer Futtersuche ein Duftsekret aus – das Pheromon. Nachfolgende Artgenossen orientieren sich bei der Wahl ihres Weges an dessen Intensität. Ein bereits stark duftender, in der Vergangenheit häufig begangener Pfad erhält somit für alle futtersuchenden Ameisen eine besondere Anziehung. Um die Effizienz und Wirksamkeit dieses Mechanismus zu verstehen, werden zwei Ameisen beobachtet, die zu Beginn zwei alternative Pfade gehen. Diejenige, die zufällig den kürzeren Weg zur Futterquelle gewählt hat, erreicht den Ausgangspunkt vor ihrer Artgenossin und hat bereits auf dem Rückweg eine zweite Duftspur gelegt.

Andere futtersuchende Ameisen werden mit großer Wahrscheinlichkeit durch diese bereits jetzt intensiver duftende Fährte angezogen. Das Pheromon wird zum kollektiven Gedächtnis, zum Speicher vorheriger Entscheidungen und steuert das Gruppenverhalten in Richtung einer Optimallösung.

Dieser so beschriebene Mechanismus ist jedoch nur dann längerfristig erfolgreich, wenn zum einen bereits zu Beginn der kürzeste Weg entdeckt wurde und zum anderen keine Änderungen (Futterquelle versiegt, Wege werden durch Hindernisse erschwert) eintreten. Nur unter diesen Bedingungen wird eine Steuerung durch den Rückspiegel der Vergangenheit möglich. Doch spätestens die nächste unerwartete Kurve würde die Störanfälligkeit offensichtlich machen.

Zur fehlerfreundlichen Ausgestaltung müssen dynamische Änderungen möglich sein. Beim Pheromonprozeß erfolgt dies auf zweifache Weise. Einmal geschieht die Orientierung an der intensivsten Duftspur nicht zwanghaft, sondern nur mit hoher Wahrscheinlichkeit. Abweichungen (Fehler) sind somit zulässig. Zudem besitzt das Pheromon eine natürliche Verflüchtigungsrate, äußere Einflüsse wie Regen (Fehler!) bewirken eine Abschwächung. Beides entwertet die bislang dominierende Lösung zugunsten von alternativen Wegen.

Die Tüchtigkeit (Effizienz) wird kurzfristig zugunsten der Vielfalt (Anpassung durch Abweichung) eingeschränkt. Die Infragestellung des Bekannten bzw. das Vergessen eines als optimal geltenden Verhaltens schafft flexible, dynamische und damit fehlerfreundliche Lösungsstrukturen, die sich als robust gegenüber äußeren Störungen und innerem Zielewandel erweisen können. Zudem zeigt dies, daß innovative Organisationen nicht nur auf individuelle Kompetenzen abstellen dürfen, sondern selbst zur Transformation fähig sein müssen.





Lessing-Hochschule zu Berlin

Die Lessing-Hochschule ist eine nach Gotthold Ephraim Lessing benannte interdisziplinäre Weiterbildungseinrichtung in Berlin-Dahlem. 1901 veröffentlichte sie ihr erstes Vorlesungsverzeichnis. Der langjährige Direktor Ludwig Lewin (1914–1933) sah in der Lessing-Hochschule ein „Mittelding zwischen Universität und Volkshochschule“. Hier wirkten Max Scheler, C. G. Jung und Georg Simmel, Carl Zuckmayer und Stefan Zweig, Theodor Heuss, Gustav Stresemann und Werner Sombart, Lise Meitner, Fritz Lang, Gustav Gründgens, Max Reinhardt oder George Bernard Shaw. Hier hielt Thomas Mann 1929 seine erste Radioansprache und Albert Einstein 1932 seine letzte Rede in Berlin. Auf Initiative von Willy Brandt baute Lewin die 1933 geschlossene Hochschule ab 1964 wieder auf. Als der CDU/SPD-Senat 2001 die Finanzierung strich, wandte sich der Trägerverein an Bernd Guggenberger, der damals gerade die Lessing-Hochschule in Meran aufbaute. Mit anderen Professoren sicherte er die Anschubfinanzierung der seither privaten Hochschule.

 www.lessing-hochschule.de