© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/17 / 11. August 2017

„Ich bin keine Verräterin“
Regierungskrise: Rot-Grün hat die Mehrheit in Niedersachsen verloren / Neuwahlen im Oktober
Paul Leonhard

In Niedersachsen wird am 15. Oktober neu gewählt. Auslöser ist der Übertritt einer Grünen-Politikerin zur CDU, wodurch die regierende rot-grüne Koaliton von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) ihre Einstimmenmehrheit im Landtag verlor. Landtagspräsident Bernd Busemann (CDU) kündigte inzwischen an, den Landtag am 21. August aufzulösen. Zuvor hatten CDU und FDP dies beantragt und sich SPD und Grüne dem angeschlossen. Damit dürfte die für eine Auflösung des Niedersächsischen Landtages benötigte Zweidrittelmehrheit sicher sein.

Weder war die SPD bereit, sich auf das laut Verfassung mögliche Wagnis einzulassen, ohne Mehrheit im Parlament wenigstens zu versuchen, bis zum regulären Ende der Legislaturperiode Anfang 2018 Sachpolitik zu betreiben, noch CDU-Spitzenkandidat und Landesvorsitzender Bernd Althusmann mit einer eventuell neu gebildeten schwarz-gelben Koalition. Er halte die Lage der Regierung ohne eine Mehrheit im Parlament für ausgesprochen schwierig, sagte Althusmann auf einer Pressekonferenz: „Wir sind in einer für die Demokratie schwierigen Situation.“

Elke Twesten hat ihr Mandat nicht niedergelegt, sondern ist damit zur CDU übergetreten, inzwischen sogar Parteimitglied im Kreisverband Rotenburg/Wümme geworden. Sie habe „einen hohen politischen Gestaltungswillen, der sich nicht einfach in Luft auflöst“, begründete sie diesen Doppelschritt in einem Interview: „Dieser Schritt war für die Menschen, die mich gewählt haben, konsequent.“ Sie sei „keine Verräterin, ich fühle mich gut“.

Twestens ehemalige grüne Parteifreunde sind dagegen davon überzeugt, daß es die Rache dafür ist, daß die Politikerin von ihnen nicht erneut als Direktkandidatin für den Wahlkreis Rotenburg und auch nicht für einen Listenplatz für die kommende Landtagswahl aufgestellt worden war. Selbst CDU-Fraktionschef Björn Thümler bezeichnete den Übertritt Twestens als „doch etwas kurios“. Nachdem verschiedene Medien der CDU unterstellten, Twesten ein „unmoralisches Angebot“ gemacht zu haben, beeilte sich Althusmann zu versichern, daß „jegliche Legendenbildung, wir hätten die Abgeordnete Twesten zum Übertritt bewegt, definitiv falsch und verleumderisch“ sei.

Weiter Fahrt nahm der Bundes- und Landtagswahlkampf in Niedersachsen durch einen Bericht der Bild am Sonntag auf. Diese berichtete, daß Ministerpräsident Weil seine Regierungserklärung zu Beginn des VW-Abgasskandals am 13. Oktober 2015 zuvor dem Autokonzern zur Korrektur gegeben habe. Er sei kein Sprachrohr der Autoindustrie, sondern habe sich „in einer schwierigen Situation“ und „mit Blick auf viele tausend Arbeitsplätze“ verantwortlich verhalten. „Wenn jedes Wort neue Ermittlungen in den USA oder sonstwo auslösen kann, muß man jedes Wort sorgfältiger abwägen, als sonst“, kommentiert Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung: „Die Regierungserklärung vorab bei VW zum Redigieren vorzulegen – das ist peinlich und etwas tölpelhaft.“ 

Gabriel findet dagegen die diesbezüglichen Vorwürfe gegenüber Weil „abenteuerlich“. Er hätte sich in einer vergleichbaren Situation zu seiner Zeit als Ministerpräsident in Niedersachsen und Aufsichtsrat bei VW „exakt genauso verhalten“. SPD-Vizechef Ralf Stegner spricht von einem „plumpen Versuch, die erfolgreiche Regierung unter Stephan Weil zu diskreditieren und von den Machenschaften der CDU in Niedersachsen abzulenken“. 

Tatsächlich bekommt die Kritik der Opposition an Weil einen Beigeschmack, nachdem jetzt bekannt wurde, daß die Landesregierung CDU und FDP schon 2016 über ihre Rücksprachen mit VW zum Dieselskandal informiert hat, wie aus einem jetzt bekanntgewordenen vertraulichen Protokoll einer Wirtschaftsausschußsitzung hervorgeht. „So genau wollten wir gar nicht wissen, welche Worte gegen welche Worte ausgetauscht wurden“, hat damals FDP-Fraktionschef Jörg Bode die Ausführungen kommentiert. 

Ein neues Faß macht zudem Michael Fuchs, stellvertretender Fraktionschef der Union im Bundestag, auf, wenn er in der Rheinischen Post fordert, der Staat „sollte sich aus dem Autokonzern heraushalten. Er verstehe nicht, warum das Land Niedersachsen 20 Prozent an VW halten muß, so der Christdemokrat. Schließlich halte Bayern auch keine Anteile an BMW oder Baden-Württemberg an Daimler. Sollte die CDU im Wahlkampf am sogenannten VW-Gesetz rütteln, das dem Land als zweitgrößtem Anteilseigner einen Sonderstatus und zwei Aufsichtsratssitze bei Volkswagen sichert, dürfte der Wahlkampf in Niedersachsen trotz des derzeitigen Trends zu Schwarz-Gelb noch richtig spannend werden. Der SPD droht der Verlust des letzten von ihr regierten Flächenlands – und damit von sechs Stimmen im Bundesrat. 





Partei- und Machtwechsel

Mehrheitswechsel durch (angeblichen) „Verrat“ haben in Niedersachsen Tradition: 1976 stimmten nach dem altersbedingten Rücktritt von Ministerpräsident Alfred Kubel (SPD) zwei Abgeordnete der sozialliberalen Koalition für den CDU-Kandidaten Ernst Albrecht, der dann (bis zum Koalitionswechsel der FDP 1977) eine Minderheitsregierung bildete. Albrecht regierte auch zeitweise mit einer Ein-Stimmen-Mehrheit.  Als der CDU-Landtagsabgeordnete Kurt Vajen zu den Republikanern übertrat, verlor Schwarz-Gelb die Mehrheit – allerdings nicht lange. Denn Oswald Hoch rückte am 6. September 1989 für einen ins Europaparlament gewechselten Parteifreund über die SPD-Landesliste in den Landtag nach – um nur einen Tag später aus der „Scheiß-SPD“ auszutreten und das Patt zu beenden.  2009 wechselte in einem spektakulären Coup die frühere stellvertretende SPD-Landesvorsitzende und Landtagsabgeordnete Swantje Hartmann zur (seinerzeit regierenden) CDU. Ihre politische Karriere konnte die als Nachwuchstalent geltende Hartmann indes nicht fortsetzen. Sie schied 2013 aus dem Landtag aus. (vo)