© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/17 / 11. August 2017

Die Stille hören
Experimentelle Kunst: Zum 25. Todestag des US-Komponisten John Cage
Jens Knorr

Vorspiel. Das Datum: 29. August 1952. Der Ort: die Maverick Concert Hall bei Woodstock, New York. Das Auditorium: Unterstützer des Benefit Artist Welfare Fund, des Wohlfahrts-Fonds für Künstler, Förderer zeitgenössischer Kunst.

Der Pianist David Tudor setzt sich an das Klavier, klappt den Deckel auf und spielt – nichts. Nach 33 Sekunden klappt er den Deckel zu. Er klappt den Deckel auf und spielt nichts. Nach zwei Minuten und vierzig Sekunden klappt er den Deckel zu. Er klappt den Deckel auf und spielt nichts. Nach einer Minute und zwanzig Sekunden klappt er den Deckel zu. Das Stück in drei Sätzen ist zu Ende. Seine Dauer: Vier Minuten, 33 Sekunden. Sein Titel: „4’33‘‘“. Sein Komponist: John Cage.

I Tacet

In einem Gespräch, das der Musikkritiker Michael John White 1982 mit John Cage führte, berichtet der Komponist über die Wirkung seiner Komposition: „Die Leute begannen, miteinander zu tuscheln, einige begannen zu gehen. Sie lachten nicht – sie waren lediglich irritiert, als sie merkten, daß nichts passieren würde. Auch 30 Jahre danach haben sie es nicht vergessen: sie sind immer noch wütend.“

Wütend worüber? Weil da keine Musik war? Doch was ist eigentlich Musik? Was geschieht, wenn nichts geschieht? Was ist zu hören, wenn alles still ist? Wär dann, mit Woyzeck zu reden, die Welt tot? Hebt da kein Rauschen, Pulsen, Tuscheln, Hüsteln und Husten und Scharren an? Gehört eine wütend zugeworfene Tür zur Aufführung, gar zum aufgeführten Stück? Was erwarten wir von einem „Kunstwerk“? Und was erwartet ein „Kunstwerk“ von uns?

Geräusch und Stille

bedingen einander

Die Satzanweisungen des Komponisten lauten für jeden der drei Sätze „Tacet“ – Schweigen. Die Partitur enthält die Anweisung des Komponisten, daß das Werk von beliebigen Instrumenten oder Zusammenstellungen von Instrumenten, beliebig vielen Instrumentalisten und in beliebiger Zeitdauer aufgeführt werden könne. Der Titel gibt lediglich die Zeitdauer der Uraufführung an. Verschiedentlich steht zu lesen, daß Tudor die jeweilige Dauer der drei Sätze vor der Aufführung erwürfelt haben soll oder der alte chinesische Klassiker „I Ging“, das „Buch der Wandlungen“, Cage als Grundlage zur Ermittlung der Tacet-Längen gedient habe.

Musik, das sind organisierte Schall-ereignisse. Die fanden und finden in jeder Aufführung von „4‘33‘‘“ statt, organisiert allein durch die Einteilung in drei Sätze, während deren erhört werden kann, was sich jeweils ereignet. Auch eine Stille, in der man das sprichwörtliche Fallen einer Stecknadel hören könnte, ist Schallereignis. Geräusch und Stille bedingen einander.

Cage setzt an Stelle des Dualismus von Geräusch und Stille den Dualismus der Absicht, etwas zu hören, und der Absicht, sich in seiner Aufmerksamkeit von Geräuschen ablenken zu lassen. „Die essentielle Bedeutung von Stille besteht darin, daß man den Vorsatz aufgibt“, sagt Cage in erwähntem Gespräch. Stille sei die Abwesenheit von beabsichtigten Geräuschen. Das aber negiert Konventionen europäischer bürgerlicher Musik, die unseren Sinnen geläufig sind. Anstelle des chronologischen Ablaufs eines Geschehens mit Reihung, Wiederholung, Entwicklung, Höhepunkt tritt der Zufall. Produzent und Rezipient fallen in eins. Es gibt nichts zu interpretieren; das „Werk“ entsteht und vergeht mit seiner Aufführung, deren jede unwiederholbarer Kunstakt ist, der sich nicht einmal adäquat dokumentieren läßt. Mißlingen kann er nicht, setzte Mißlingen doch Maßstab für Gelingen oder zumindest die Erwartung eines Gelingens voraus.

II Tacet

„4‘33‘‘“ ist Cages wohl berühmtestes, wenn auch nicht wirkungsmächtigstes seiner etwa 250 Stücke. Man hat es angegriffen und verteidigt, bekämpft, aber nicht widerlegt, man hat es für Quatsch mit Soße erklärt, aber nicht erklärt. Man hat es zu parodieren versucht, ohne seine Intention verstanden zu haben. Man hat es dem Musikbetrieb einverleibt und vernutzt.

Das Stück ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Lange vor Cage haben Komponisten das Verhältnis von Stille und Geräusch thematisiert, aber immer nur als Verweigerung erwarteter Klangereignisse, man erinnere die stummen „Sphinxes“ in Robert Schumanns „Carnaval“ op. 9 oder die nur aus Pausen bestehende „In Futurum“ aus Erwin Schulhoffs „Fünf Pittoresken“ op. 31, man erinnere überhaupt Dada. Doch in dieser Tradition steht Cage nicht wirklich.

John Milton Cage Jr., geboren 1912 in Los Angeles, gestorben 1992 in New York City, war klassisch ausgebildeter Musiker, Komponist und Musiktheoretiker. Er besaß umfassende Kenntnisse in Literatur und Bildender Kunst, war mit der US-amerikanischen Moderne vertraut und früh in die moderne US-Kunstszene eingebunden.

Ende der vierziger Jahre hatte sich Cage in den schalltoten Raum der Universität Harvard begeben. Doch seine Erwartung, nichts zu hören, wurde enttäuscht. Statt absoluter Stille „hörte ich zwei Klänge, einen hohen und einen tiefen. Als ich sie dem zuständigen Techniker beschrieb, erklärte er mir, der hohe entstehe durch die Arbeit meines Nervensystems und der tiefe durch meinen Blutkreislauf.“

1951 hatte der Maler Robert Rauschenberg in seiner ersten Einzelausstellung in der Betty Parsons Gallery, New York, sieben monochrom-weiße Tafeln ausgestellt, „White Paintings“, mit denen er „die Malerei auszulöschen“ gedachte. Rauschenberg hatte, ohne zu grundieren, weiße Wandfarbe mit der Rolle direkt auf die Leinwand aufgetragen und anheimgestellt, sie jederzeit zu übermalen, um das ursprüngliche Aussehen zu erhalten und jegliche Andeutung von Alterung oder Patina zu vermeiden.

Cage beschrieb die „White Paintings“ als „Flughäfen“, auf denen changierendes Licht, Schatten, ja sogar Staubpartikel „landen“ konnten, um subtile Veränderungen in der Umgebung festzuhalten. Im Rahmen der Mutimedia-Performance „Theater Piece No. 1 (The Event)“, die Cage, Rauschenberg und der Tänzer und Choreograph Merce Cunningham 1952 am Black Mountain College, North Carolina, veranstalteten, hingen Rauschenbergs „White Paintings“, zu einem Kreuz gruppiert, an der Decke.

Es waren deutsches und amerikanisches Bauhaus, Aktionskunst und Kunstaktion, Performance und Experiment, Happening und Fluxus, es waren alle Bewegungen, welche die Einheit von Kunst und Leben suchten und doch immer nur für flüchtigste Augenblicke fanden, die für Cage prägend wurden, wie er für sie.

III Tacet

Unser lineares Zeitempfinden, die Auffassung eines gerichteten Zeitablaufs, ist den Produktionsprozessen des Kapitalismus nicht etwa vor-, sondern nachgebildet. Ereignisse „laufen“ für uns nacheinander „ab“, dabei haben sie sich schlicht ereignet. Musikalische Form ist, wie Heinz-Klaus Metzger 1959 formulierte, „nichts anderes als Abhandlung von Prioritätsverhältnissen in der Zeit.“ Dementsprechend ließe sich malerische Form als Abhandlung von Prioritätsverhältnissen auf der Fläche bestimmen.

Noch einfachste Einfachheit wie komplexester Komplexismus, die serielle Musik des vorigen Jahrhunderts sowieso, haben diesen Zeitbegriff und die ihm zugrundeliegenden Verhältnisse akzeptiert. Die Forderung nach Qualität und höchster Konsistenz des Kunstwerks, alles Überflüssige aus ihm zu verbannen, ist dem Effizienzdenken der Warenproduktion und der Inwertsetzung ihrer Produkte geschuldet.

Zäsur der europäischen Musikgeschichte

Cages Rebellion gegen Musik als realem Zeitverlauf ist eine gegen die Ordnung, die ihn diktiert, seine anarchische Ästhetik Modell für umfassende politische Freiheit. An die Stelle der Aufführung eines musikalischen „Werkes“ treten Prozeß und Aktion, anstelle interpretierender Musikausübung Zufallsoperationen mit Klängen und Geräuschen des Alltags. Der Musiker bekommt Materialien zu freier Entscheidung in die Hand, das Ergebnis ist nicht vorhersehbar. Die Arbeitsteilung zwischen Fachleuten und Laien, die Dichotomie zwischen Theorie und Praxis ist aufgehoben.

„Ihre Wahrheit hat sie (Cages Musik, J.K.) daran, daß sie einen Zustand proklamiert, der der Hierarchie der Zwecke (…) und dem Wertgesetz nicht länger unterstellt wäre; ihre Unwahrheit daran, daß sie es unter einem gesellschaftlichen Zustand unternimmt, der dessen spottet“, hat Cages unermüdlicher Propagandist Heinz-Klaus Metzger bereits 1959 den Widerspruch der kompositorischen Praxis Cages umrissen.

Es ist hier nicht Raum und Zeit, die Diskussionen um Cage, um seine zentralen Kategorien „Silence“ und „Indeterminacy“, um Konstruktion und Dekonstruktion des „Mythos Cage“, mehr als nur anzureißen, geschweige denn abschließend zu werten. Daß aber „4‘33““ eine Zäsur der europäischen Musikgeschichte bedeutet, vergleichbar der Einführung des Taktstrichs im 16./17. Jahrhundert, ist offensichtlich. „4‘33‘‘“ ist einer vieler Wege, die im Gehen entstehen und verschwinden, wenn sie gegangen worden sind. Einige Jahre nach der Komposition  erklärte Cage in einem Interview, daß er das Stück nicht mehr benötige, da er inzwischen in der Lage sei, es ständig zu hören: „Die Musik, die mir am liebsten ist und die ich meiner eigenen oder irgendeines anderen vorziehe, ist einfach die, die wir hören, wenn wir ruhig sind.“

Soweit wir in einer weiß angestrichenen Leinwand nichts als weiße Fläche sehen und in der Stille von vier Minuten und 33 Sekunden nichts als Stille hören, sind wir noch nicht losgegangen. Am 12. August jährt sich John Cages Tod zum 25. Mal. 

Coda

Im Jahre 2012 bittet der Regisseur, Schauspieler, Texter und Musiker Rainald Grebe („Brandenburg“) den Bariton Thomas Quasthoff auf die Bühne des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, und Quasthoff spielt „4’33““. Die Aufführung bedeutet weit mehr als eine Wiederbelebung von „Dada Berlin“: Einst hatte man dem heute weltberühmten Sänger eine Gesangsausbildung an der Musikhochschule Hannover verweigert, da er seiner Contergan-Schädigung wegen nicht Klavier spielen könne. Wer hätte für diesen einen Abend einen Pianisten für Cages sechzig Jahre altes Stück zu benennen gewußt, der Quasthoff ebenbürtig gewesen wäre?!

Foto: „Eine experimentelle Aktion ist eine solche, deren Ergebnis nicht vorhersehbar ist. Eine solche Aktion braucht als unvorhergesehene nicht auf ihre Rechtfertigung bedacht zu sein. Wie das Land, wie die Luft bedarf sie keiner Rechtfertigung. Die Aufführung eines hinsichtlich eben seiner Aufführung indeterminierten Werks ist mit Notwendigkeit einmalig. Sie kann nicht wiederholt werden. Wird ein solches Werk ein zweites Mal aufgeführt, so entsteht ein anderes Ergebnis als vorher. Nichts wird durch eine derartige Aufführung vollendet, da sie nicht als ein Objekt in der Zeit greifbar wird. Die Aufnahme eines solchen Werks hat nicht mehr Wert als eine Postkarte; sie vermittelt Kenntnis von etwas, das stattfand, während die Aktion die Nichtkenntnis von etwas, was noch nicht stattgefunden hatte, gewesen war.“

John Cage: Composition as Process, Indeterminacy