© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/17 / 11. August 2017

Herrschaftsformen in Geschichte und Gegenwart
Demokratie – eine Fiktion
Ulrich March

In der Antike unterschied man zwischen der Herrschaft eines einzigen, derjenigen der Besten und derjenigen des gesamten Volkes und kannte demgemäß die drei Staatsformen der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie, ferner deren jeweilige Fehl- und Verfallsformen, die Tyrannis, die Oligarchie (im Sinne von Cliquenherrschaft) und die Ochlokratie (Pöbelherrschaft). Zu diesen klassischen Staatsformen sind im Lauf der Geschichte noch viele weitere getreten, so in jüngerer Zeit verschiedene Formen autoritärer und totalitärer Herrschaft, etwa die Partei- und die Militärdiktatur.

Ungeachtet dieser Vielfalt lassen sich gewisse überzeitliche Grundformen der Herrschaftsstruktur erkennen. Als historische Konstante erscheint zunächst die Tatsache, daß politische Macht unabhängig von der jeweils offiziell proklamierten Staatsform von einem überschaubar kleinen Personenkreis ausgeübt wird. Die Oligarchie (griech. „oligoi“ = „wenige“, „archein“ = „herrschen“) erscheint somit, anders als in der traditionellen Betrachtungsweise, nicht nur als eine von vielen Staatsformen, sondern als das faktisch gängige Herrschaftssystem. Selbst in der absoluten Monarchie und der totalitären Diktatur sind willfährige Funktionäre des Systems in Teilbereichen durchaus an der Machtausübung beteiligt.

Eine weitere Konstante stellt die doppelte Dimension der Machtausübung dar: Neben der eigentlich politischen gibt es stets auch geistige Führung. In vor- und frühgeschichtlicher Zeit stehen sich, wie noch heute in archaischen Gesellschaften und Kulturen, „Häuptlinge“ und „Medizinmänner“ gegenüber, also Hordenführer, Sippenälteste und Clanchefs einerseits, Seher und Traumdeuter, Magier und Schamanen andererseits. Den ersteren obliegt die Sorge für innere und äußere Sicherheit ihres Verbandes; sie nehmen daher die Führungsfunktionen im Rechts- und Militärwesen wahr, seit eh und je die Kernbereiche aller Staatlichkeit. Die Angehörigen der zweiten Gruppe sind für Sinndeutung, Sozialmoral und mithin auch für politische Propaganda im Sinne von Herrschaftslegitimation zuständig. Beide Gruppierungen stehen naturgemäß in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander, stützen sich aber im gemeinsamen Interesse der Machtsicherung prinzipiell gegenseitig.

Im weiteren Verlauf der Geschichte verfestigt und institutionalisiert sich diese Zweiteilung. Aus der Häuptlingsschicht erwachsen erblicher Adel und Hochadel, aus dem prähistorischen Schamanentum gehen die Priesterschaften der Hochreligionen hervor. Dabei weicht die Entwicklung in Eu­ropa in zwei wesentlichen Punkten von der in anderen Weltregionen ab. Verbreitetste Staatsform ist zwar zumeist hier wie auch anderwärts die Monarchie, doch entwickelt sich zumindest im lateinischen Teil des Kontinents keine wirkliche Alleinherrschaft. Vielmehr sind die Machtbefugnisse der Monarchen durchweg begrenzt, etwa durch das geltende Landesrecht, durch mächtige ständische Vertretungen, durch beratende und zugleich kontrollierende Gremien wie Hofadel, Verwandte und Mitregenten, durch finanzielle Abhängigkeiten, nicht zuletzt auch durch zahllose, abgestufte Rechte der Regionalmachthaber.

Auch Religion und Priestertum entwickeln sich in Europa anders als in anderen Weltgegenden. Zwar betreibt die Kirche auch im Abendland die geistig-geistliche Absicherung der vorgegebenen Ordnung („Bündnis zwischen Thron und Altar“). Anders jedoch als die Priesterschaften in Asien oder im präkolumbianischen Amerika, anders auch als die ebenfalls der jeweiligen politischen Macht ergebene griechisch-orthodoxe Ostkirche („Cäsaropapismus“), bewahrt die Kirche des Abendlandes eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber der weltlichen Herrschaft, übt teilweise auch selbst politische Macht aus, so etwa im Kirchenstaat, und stellt sich mitunter, so im Investiturstreit, sogar gegen die staatliche Gewalt. Der Spielraum für geistige Auseinandersetzungen, zunächst vornehmlich im Zuständigkeitsbereich der Kirche, ist damit in Europa von vornherein größer als anderswo; das bleibt auch so, nachdem seit dem Spätmittelalter neben und an die Stelle der Kirche Philosophen und Wissenschaftler, Dichter und Denker, Kritiker und Publizisten treten.

Auch in der demokratischen Staatsform verschwinden die überkommenen oligarchischen Konstanten bezüglich Staatsordnung und faktischer Machtausübung nicht. Von tatsächlicher Volksherrschaft im engeren Sinne kann keine Rede sein.

Die Zahl derjenigen, die über politische oder geistige Angelegenheiten entscheiden, bleibt aber gering. Nur wenige Angehörige des Adels, der seinerseits ja nur einen Bruchteil der Bevölkerung ausmacht, sind zusammen mit den Fürsten am eigentlichen Regierungsgeschäft beteiligt. Entsprechend sieht es auf der kirchlichen Seite aus. Von Bedeutung sind lediglich hohe Würdenträger wie Bischöfe, Äbte oder Mitglieder der Hofkapelle, also nur ein kleiner Teil der Geistlichkeit, die ihrerseits ebenfalls nur einen Bruchteil der Bevölkerung ausmacht. Auch in den wenigen europäischen Republiken bestimmt lediglich eine Minderheit das Geschehen, so über viele Jahrhunderte hinweg in der Republik Venedig der Adel, in den Stadtrepubliken Italiens und in den deutschen Freien Reichsstädten das Patriziat.

Seit der Renaissance und der Aufklärung kommt es in Europa zu immer weiter fortschreitender Emanzipation des Individuums, zu persönlicher und politischer Selbstbestimmung und zur Ausbreitung der demokratischen Staatsform, so daß mit der allgemeinen, gleichen und geheimen Wahl erstmals alle Bürger am politischen Prozeß beteiligt sind. Die überkommenen oligarchischen Konstanten bezüglich Staatsordnung und faktischer Machtausübung verschwinden damit aber keineswegs. Rechtsstaatliche Demokratie und Meinungsfreiheit bieten zwar jedem einzelnen die Möglichkeit zur politischen Gestaltung, von tatsächlicher Volksherrschaft im engeren Sinne (griech. „demos“ = „Volk“, „kratein“ = „herrschen“) kann gleichwohl keine Rede sein.

Direkte Demokratie, wie sie etwa die Volksversammlung im klassischen Athen, der altisländische Allthing oder die schweizerischen Kantonsversammlungen praktizierten, ist nur unter räumlich und numerisch überschaubaren Verhältnissen denkbar. Ihr am nächsten kommt die plebiszitäre Demokratie, wie sie in der Schweiz, auf lokaler Ebene (zum Beispiel bei Bürgermeisterwahlen) oder gelegentlich bei einem Referendum gehandhabt wird.

Intellektuelle und Publizisten setzen insofern die Tradition der früheren Priesterschaften fort, als sie, obgleich sie sich selbst als „kritisch“ einschätzen, Gläubige, nämlich des Gleichheitsdogmas, sind und Andersdenkende als Ketzer betrachten.

Unter den Bedingungen der modernen Massengesellschaft ist die demokratische Normalform die repräsentative Demokratie, bei der ein auf einige Jahre gewähltes Parlament den Willen des Volkes vollzieht. Die Rolle der meisten Bürger, wenn sie denn zur Wahl gehen, beschränkt sich darauf, einem Kandidaten ihres Vertrauens ihre Stimme zu geben, der sie für die Dauer der Legislaturperiode vertreten soll. Der Begriff „Volksherrschaft“ verliert damit den Charakter der Unmittelbarkeit, da zwischen Wählern und Parlamentariern zumeist nur wenig Kontakt besteht, letztere hingegen starken anderen Einflüssen ausgesetzt sind.

Traditionell stark ist zum Beispiel der politische Einfluß der Wirtschaft, deren oligarchisch strukturierte Führungsgremien denen der politischen Ebene entsprechen, so daß von vornherein gewisse Gemeinsamkeiten gegeben sind. Treffend kommt dies in der Bezeichnung „Oligarchen“ zum Ausdruck, die in einigen ehemals kommunistischen Ländern, vor allem in den ostslawischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, für schwerreiche Unternehmer üblich geworden ist, deren Wirtschaftsmacht nicht zuletzt auf der Aneignung ehemaligen Staatsbesitzes beruht.

Anders als in der direkten Demokratie muß das politische Handeln von Parlament und Regierung dem einzelnen Staatsbürger heute vermittelt werden. Damit gewinnen die Medien (lat. „medium“ = „Mittel“), vor allem die meinungsbildenden Leitmedien, eine überragende Bedeutung, wobei also wiederum wenigen Personen eine Schlüsselrolle zufällt. Hinzu kommt, daß sich die Demokratie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Gründen, die ebenfalls in der Massengesellschaft zu suchen sind, zur Parteiendemokratie entwickelt hat und daß die Parteien durchweg oligarchisch und hierarchisch strukturiert sind.

Da die Parteien heute das politische Geschehen bestimmen, muß, wer politisch etwas bewegen möchte, in eine Partei eintreten. Das tun aber in den meisten Ländern nur wenige, in Deutschland nur rund anderthalb Prozent der Bevölkerung. Von dieser ohnehin geringen Zahl gelangen wiederum nur sehr wenige in Entscheidungspositionen; die Tätigkeit der allermeisten Mitglieder beschränkt sich auf die Teilnahme an Veranstaltungen und auf die Wahl der Ortsvorstände und der Parlamentskandidaten, allenfalls noch auf Wahlkampfhilfe. Entscheidend sind letztlich die Partei- und Fraktionsvorstände auf regionaler und nationaler Ebene, vor allem die jeweiligen Vorsitzenden, also eine äußerst geringe Zahl von Personen.

Politik bedarf auch heute wie eh und je der geistigen Begleitung und Rechtfertigung. An die Stelle der Schamanen und der Priester sind seit geraumer Zeit Intellektuelle, Publizisten und Politliteraten getreten, die eine vergleichbare Macht hinsichtlich der geistig-kulturellen Orientierung der Massen ausüben und ebenfalls die Zuständigkeit für Sinndeutung und Sozialmoral für sich in Anspruch nehmen. Sie pflegen sich auf das Humanum, also auf das Erbe von Renaissance und Aufklärung, zu berufen, verfechten aber weithin den Mainstream eines flachen Humanitarismus, der in der allgemeinen Gleichheit der Menschen und Völker, der Geschlechter und Gesellschaftsschichten das Heil aller Dinge sieht. Sie setzen insofern die Tradition der früheren Priesterschaften fort, als sie, obgleich sie sich selbst als „kritisch“ einschätzen, Gläubige, nämlich des Gleichheitsdogmas, sind und Andersdenkende als Ketzer betrachten, die sie zwar nicht mehr verbrennen, aber ins politisch-gesellschaftliche Abseits zu stellen versuchen.

Jenseits aller proklamierten Beteuerungen, jenseits auch allen ehrlichen demokratischen Bemühens, setzen sich also auch heute die überkommenen oligarchischen Strukturen fort. Nach wie vor bestimmen verhältnismäßig kleine Minderheitengruppen einen Großteil des politischen und geistigen Geschehens. Das „gemeine Volk“ hat immer noch seine Häuptlinge und seine Medizinmänner. 







Dr. Ulrich March, Jahrgang 1936, war im schleswig-holsteinischen Schul- und Hochschuldienst tätig, zuletzt als Leiter eines Gymnasiums. Von 1973 bis 1999 war March Sektionsleiter der Schleswig-Holsteinischen Universitäts-Gesellschaft. Als Landeshistoriker veröffentlichte er zur deutschen und europäischen Geschichte, insbesondere zur historischen Landeskunde (unter anderem „Kleine Geschichte deutscher Länder“, 2006 und „Kleine Geschichte des Ostseeraums. Einheit und Vielfalt einer europäischen Region“, 2014).

Foto: Prächtiger Kopfschmuck eines Indianerhäuptlings: Ungeachtet aller geschichtlichen Veränderungen hat das Volk noch immer seine Häuptlinge und Medizinmänner.