© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/17 / 11. August 2017

Ein Doppelleben im Juste milieu
Ein Pädophiler als Star der deutschen Reformpädagogik: Die Karriere des Gerold Becker
Jürgen W. Schmidt

Eine beachtliche Schuld an der jahrzehntelangen „Verschlimmbesserung“ des deutschen Bildungswesens trägt die „Reformpädagogik“. Mit wohlklingenden Schlagworten wie „offener Unterricht“, „Erziehung zur Mündigkeit“ oder „Entschulung der Schule“ nebst der Vergötterung von Landschulheimen und „integrierten Gesamtschulen“ wurde hier ein zielgerichteter Kampf gegen die althergebrachten „Staatsschulen“ geführt und diese als „Berechtigungsverteilungsanstalten“ verteufelt. 

Namhafteste Vertreter jener Form bundesdeutscher Reformpädagogik waren die Professoren Hellmut Becker und Hartmut von Hentig. Einen schweren Schlag für die Reformpädagogik, welche ein festes Bündnis mit dem linken Zeitgeist eingegangen war, bedeutete im März 2010 die Enttarnung des langjährigen Direktors der Odenwaldschule Gerold Becker als eines Pädophilen mit  jahrzehntelangem Unwesen. Zwar waren bereits 1999 gegen ihn Verdächtigungen hochgekocht. Aber erst der Skandal um das Berliner Canisius-Kolleg Anfang 2010 enthüllte parallel dazu vor der nunmehr für das Problem der Pädophilie sensibilisierten deutschen Öffentlichkeit die kriminellen Verfehlungen von Becker. 

Becker verstarb er am 7. Juli 2010 in Berlin, ohne juristisch für seine Verfehlungen zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Der emeritierte Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers von der Universität Zürich und Mitherausgeber der Zeitschrift für Pädagogik wunderte sich über die vielen Seltsamkeiten des Falles Becker und hat sich deswegen in vierjähriger Feinarbeit bemüht, dem bislang unbekannten Lebensweg von Gerold Becker, dessen Netzwerken und geistigen Förderern auf die Spur zu kommen. 

Oelkers Forschungen zeigen die Sumpfblüten deutscher Reformpädagogik an ihrer bis dato gerühmten Musteranstalt, der „Odenwaldschule“ in Ober-Hambach nahe Heppenheim, auf. Unter dem Direktorat von Becker blühte hier Drogen- und Alkoholsucht, kam es zu sexuellen Ausschweifungen zwischen Lehrern und Schülern. Eine „Insel der Menschlichkeit“ sollte diese Schule gemäß den Worten von Direktor Becker sein, doch von Pädophilie sowie sonstigen sexuellen Kontakten zwischen Lehrern und Schülern wollte vor 1999 niemand etwas gespürt oder gar konkret gewußt haben. Erst die späten Enthüllungen einiger früherer Schüler ab dem Jahr 1999, darunter der Journalist Tilman Jens oder die Moderatorin Amelie Fried, brachten hier die Kugel ins Rollen und entlarvten das Doppelleben eines bis dahin in den Medien und in akademischen Zirkeln multipräsenten „Pädagogen“.  

Am überraschendsten war für Oelkers im Laufe seiner Forschungen jedoch der Umstand, daß Gerold Becker keinerlei Lehrerausbildung, geschweige denn einen pädagogischen Abschluß besaß. Der 1936 in Stettin geborene Becker hatte einst Theologie studiert, aber nur das erste theologische Examen abgelegt, als ihn 1963 ein Vorkommnis mit einem Minderjährigen aus der geistlichen Laufbahn warf. Nunmehr verlegte sich Becker an seiner heimischen Universität Göttingen auf die Pädagogik und erlangte sogleich, vermutlich unter Ausnutzung homosexueller Netzwerke, eine Assistentenstellung. Er gab jahrelang vor, an einer anspruchsvollen pädagogischen Dissertation zu arbeiten. Doch obwohl hoch intelligent, und von der Veranlagung her ein redegewandter „Blender“, gelang es Becker nicht, diese Dissertation zu bewältigen. 

„Starpädagoge“ ohne einen pädagogischen Abschluß

Dieselben informellen Netzwerke, welche es ihm ermöglicht hatten, ohne entsprechenden Studienabschluß Universitätsassistent zu werden, ermöglichten ihm nun den Sprung an die Odenwaldschule. An dieser von vielen Söhnen und Töchtern von bundesdeutschen Prominenten aus Medien, Politik und Wirtschaft (von Gerd Ruge über Alfred Neven DuMont, Ferdinand Porsche bis zu Richard von Weizsäcker) besuchten antiautotären Kaderschmiede wurde Becker planmäßig binnen zweier Jahre zum neuen Direktor aufgebaut. Ihm gelang es, eine Meuterei von Lehrkräften, die mit seinen zweifelhaften pädagogischen Methoden nicht einverstanden waren, unverzüglich zu unterdrücken und war nun unangefochtener König seiner Schule. In einer Woge von „Laissser-faire“ übersahen danach die Lehrkräfte alle auf Pädophilie und sonstige Ungereimtheiten hindeutenden Fakten. 

An der Odenwaldschule gab es unter Becker zwölfjährige Alkoholiker, die täglich einen Kasten Bier bewältigen konnten, und mit einem neuen Schüler wurde gar vertraglich klargemacht, daß er an der Schule ungestört kiffen dürfe. Regelmäßiger Schulbesuch wurde nicht verlangt, und die Fehlzeiten mancher Schüler waren enorm. Trotzdem wurden per „Kollegiumsbeschluß“ bestimmten Schülern Schulabschlüsse zuerkannt, während andere Schüler von Direktor Becker gnadenlos den Schulverweis bekamen. 

Daß sich unter letzteren die Schüler befanden, die sich Becker sexuell verweigerten, war wohl nicht ganz zufällig. Oelkers Studie liest sich wie ein Kriminalroman und man ist immer wieder erstaunt, wie es Becker in seinen unterschiedlichen Lebensphasen gelang, sich stets neu als „Starpädagogen“ zu präsentieren, obwohl er über keinen pädagogischen Abschluß verfügte und seine pädagogische Praxis sich nicht durch sonderliche Sachkenntnis auszeichnete. 

Oelkers diesbezügliches Resümee zum modernen Hochstapler Gerold Becker lautet: „Seine Karriere war die eines pädagogischen Rhetorikers, der zu vielen Themen etwas zu sagen wußte und immer mit der richtigen Moral Eindruck zu machen verstand. Wirkliche Expertise und ertragreiche praktische Problemlösungen waren von ihm als Autor kaum zu erwarten, obwohl er geschickt genug war, immer genau diesen Anschein zu erwecken.“ 

Jürgen Oelkers: Pädagogik, Elite, Mißbrauch. Die „Karriere“ des Gerold Becker. Beltz-Juventa Verlag, Weinheim und Basel 2016, gebunden, 608 Seiten,  58 Euro