© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/17 / 11. August 2017

Kopfkribbeln bis zum Gehirnorgasmus
ASMR-Videos versprechen Entspannung und erreichen über das Internet immer mehr Zuschauer
Verena Rosenkranz

Ein leises Flüstern, sanfte Geräusche im Hintergrund oder einfach nur bei Massagen, Rasuren oder Kosmetikanwendungen ohne Gespräche zuschauen. Die Rede ist nicht vom Yogastudio um die Ecke oder dem teuren Spa-Bereich. Der neueste Trend beschäftigt sich zwar auch mit einer speziellen Entspannungstechnik, findet aber gänzlich im Internet statt. Vor allem Menschen mit Schlafproblemen oder nervösen Symptomen will ASMR helfen. „Autonomous Sensory Meridian Response“ soll dabei in erster Linie das Gehirn entspannen. Eine deutsche Übersetzung gibt es nicht, eine wissenschaftliche Erklärung ebenso wenig. Dennoch schwört ein Millionenpublikum weltweit auf die beruhigenden Videos bei Youtube & Co. und beschreibt das leichte „Kopfkribbeln“ mit einem „Gehirnorgasmus“, der schließlich in einen tiefen Schlaf mündet. Eine sexuelle Komponente weisen die ASMR-Begeisterten in diversen Internetforen jedoch entschieden zurück. Es handle sich keineswegs um einen Zustand der Erregung, sondern vielmehr um das genaue Gegenteil.

Durch das liebevolle Lächeln, die beruhigende Stimme und ganz bestimmte Hintergrundgeräusche schaffen es Videofilmer auf der ganzen Welt, sogenannte „Triggerpunkte“ im Kopf ihrer Zuschauer und Zuhörer auszulösen. Besser als jede Droge sei der Zustand nach Angaben der Fangemeinde. Gestreßte empfehlen, den Laptop aufzuklappen, einen solchen Film abzurufen, die Kopfhörer aufzusetzen und zuzusehen oder auch einfach die Augen zu schließen. Nach ein paar Minuten der persönlichen und ruhigen Ansprache sowie Kraul-, Kämm- oder Raschelgeräuschen würde sich ein angenehmes Prickeln auf der Kopfhaut und im Nackenbereich einstellen. Eine tiefe Entspannung stelle den Höhepunkt des Erlebnisses dar.

Anfällig für den Trend, der vor fünf Jahren in kleinen Zirkeln im Internet begann und nun ein immer größeres Publikum erreicht, sind vor allem Menschen, die sehr sensibel auf Stimulierungen des hinteren Gehirns reagieren. Beliebte Motive sind laut Nutzern und Produzenten etwa sanftes Haareschneiden oder das angenehme Vorlesen einer Geschichte sowie das Geräusch von fließendem Wasser. Warum ausgerechnet das zu dem angenehmen Gefühl in Hinterkopf und Wirbelsäule führen sollte, können sich weder  Schlafforscher noch Psychologen erklären. Der amerikanische Neurologe Steven Novella versucht den Trend auf seinem Internetblog folgendermaßen zu deuten: „Alle diese Trigger sprechen anscheinend dasselbe Netzwerk im Gehirn an – den Teil von uns, der vorsichtig und nachsichtig mit unserer Umgebung oder anderen Menschen interagiert.“

Wissenschaftlich schwer zu erklären

Unzählige Blogger bieten die verschiedensten Methoden an, um diese Punkte im Gehirn zu stimulieren und den gewünschten Effekt zu erzielen. Sie flüstern ihren Zuhörern sanft ins Ohr, andere bieten Kopfmassagen und wieder andere benutzen diverse Gegenstände, um ein leises Klacken, Wischen oder Tippen hervorzurufen. Die Tiefenentspannung mittels ASMR wirkt allerdings nicht bei jedem, wie Versuche ergaben. Wem aber schon bei sanftem Kopfstreicheln ein angenehmer Schauer über den Rücken jagt, der sollte sich definitiv ein paar Minuten oder auch Stunden für die entspannenden Videos Zeit nehmen. 

Ob es nun die blonde Russin Maria ist, die vor laufender Kamera in aller  Seelenruhe Arbeiten im Haushalt erledigt wie etwa Handtücherfalten, der bereits recht populäre „Cosmic Barber“ aus Indien oder der freundlich lächelnde Dmitri aus Australien – das immer größer werdende Publikum hat die Wahl. Die scheinbar simpelsten Tätigkeiten ermöglichen es einem fast grenzenlosen Teilnehmerkreis, zu Produzenten zu werden. Sie sind die Herrscher des „Gehirnorgamus“. Was sie können müssen, um so richtig durchzustarten? Gut flüstern und professionell mit etlichen Gegenständen herumklimpern. Bis zu 3,5 Millionen Zuseher erreichen die erfolgreichsten ASMR-Kanäle derzeit immerhin.