© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/17 / 18. August 2017

Warmlaufen für die Große Transformation
Klimaschützer und Geowissenschaftler fordern ein Menschenrecht auf Erdsystemstabilität
Christoph Keller

Verglichen mit dem Umsturzpotential des „Anthropozäns“ war Lenins und Trotzkis Große Sozialistische Oktoberrevolution ein Zwergenaufstand. Der zumal am kapitalistisch organisierten Wirtschaftssystem nichts ändern, sondern es nur in die Hände neuer Herren über Maschinen und Fließbänder legen wollte. Wird hingegen realisiert, was sich hinter dem sperrigen Fachbegriff „Anthropozän“ verbirgt, verschwände die heutige Welt so rückstandslos wie das Römische Reich nach der Völkerwanderung.

Zän kommt vom griechischen kainos, neu. Was Engländer mit cene übersetzen, woraus eingedeutscht zän wurde. Nach neuerer geowissenschaftlicher Auffassung begann spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts ein Erdzeitalter, das deswegen neu ist, weil erstmals der Mensch das Erdsystem dermaßen beeinflußt hat, daß es sich von dem der vorangegangenen Epoche, des über 12.000 Jahre umweltstabilen Holozäns, fundamental unterscheidet. Seitdem der holländische Meteorologe und Nobelpreisträger Paul Crutzen diesen Terminus 2000 kreierte, streiten Natur- und Kulturwissenschaftler darüber, ob er Wirklichkeit adäquat erfaßt.
Schon die Periodisierung scheint willkürlich. Hat der Mensch, fragt rhetorisch der Geowissenschaftler Reinhold Leinfelder (FU Berlin), nicht schon im ausgehenden Eiszeitalter Großsäugetiere gejagt und ihr Aussterben bewirkt? Und wie steht es mit den Eingriffen ins steinzeitliche Ökosystem, die vom seßhaft gewordenen Menschen durch Ackerbau und Viehzucht ausgingen? Tatsächlich ist es schwierig, die Grenze für ein neues Erdzeitalter zu fixieren. Doch gibt es für Leinfelder ein Kriterium, auf das sich die Kontrahenten einer Debatte, in der es „derzeit hochher geht“, verständigen könnte: die Intensität der menschlich induzierten Veränderungen des Planeten.

Droht die ökologischeWeltregierung?

Niemals zuvor sei der Mensch zum dominanten Erdsystemfaktor geworden. Niemals zuvor gab es so wenig, nämlich nur noch knapp ein Viertel der eisfreien festen Erde, „Ur-Natur“. Weder in der Eis- und Steinzeit noch in irgendeiner jüngeren Periode des Pleistozäns bis zum Beginn der industriellen Revolution habe der Mensch das Erdsystem an Belastungsgrenzen geführt. Dies geschehe in singulärer Weise erst jetzt (Zeitschrift für Umweltrecht, 5/17).

Anknüpfend an die vom Club of Rome vorgeschlagenen Parameter zur Markierung der „Grenzen des Wachstums“ sprechen Theoretiker des Anthropozäns von „Leitplanken“ für natürliche Ressourcen. Prominentes Beispiel: die Marge für die Erderwärmung, die bei 1,5 bis zwei Grad Celsius über dem Stand der nichtindustriellen Epoche liegen soll. Oder die Toleranzgrenzen für schwindende Biodiversität, für die Verfügbarkeit fruchtbaren Bodens, trinkbaren Wassers, die Absorbierbarkeit von Schad- und Nährstoffen.

Würden diese Leitplanken ignoriert, gingen immer mehr Gebiete für menschliches Leben verloren. Schließlich kündige sich eine gefährliche Eskalation an, wenn „Kippelemente“ kritische Werte überschreiten. Zu ihnen gehören der arktische und antarktische Meer- und Landeispanzer, der Amazonaswald, das Methanlager der Permafrostgebiete, die atlantische thermohaline Zirkulation, die Bewegungsmuster der planetaren Atmosphäre und die marine Kohlenstoffpumpe. Kennzeichnend für das Anthropozän sei, daß die Menschheit diese Leitplanken teils heute, teils in naher Zukunft einreiße und Kipp-Punkte hinter sich lasse, jenseits derer Umweltzerstörung sich beschleunige.

In dieser „zunehmend dramatischen Lage“ weiß Leinfelder Rat: So radikal wie der Mensch die Erde bis zu drohender Unbewohnbarkeit verwandelte, so radikal muß die Kehrtwende ausfallen. Auf die fürchterliche Diagnose des Anthropozän-Modells folgt daher zwingend die strenge Therapie der „Großen Transformation“. Und wie es der Zufall will, kann Leinfelder hierfür auf ein Kursbuch zur Weltrettung zurückgreifen, das er mitverfaßt hat.
Zwar den Hauptanteil daran, nämlich am „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“, die jener Wissenschaftschaftliche Beirat 2011 vorlegte, der die Bundesregierung über „Globale Umweltveränderung“ (WBGU) ins Bild setzen soll, darf deren langjähriger Vorsitzender, der Potsdamer Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber, für sich reklamieren. Aber zwischen ihn und seinen geowissenschaftlichen Berliner Kollegen paßt kein Blatt, wenn es gilt, die Öffentlichkeit angeblich „wertfrei und analytisch“ über das „heutige auf kurzfristige Profitmaximierung ausgerichtete Wirtschaften als Parasitismus am Erdsystem“ aufzuklären und ein „symbiontisches Wirtschaften“ anzumahnen, ressourcenschonend und nachhaltig.

Abschaffung des Individualverkehrs

Da Leinfelder argwöhnt, ohne Zwang gehe es wohl fröhlich weiter auf dem „Business-as-usual-Pfad“ in den Abgrund, mit Fleischkonsum, industrieller Landwirtschaft, Vermüllung der Ozeane, Regenwaldzerstörung und Aufheizung der Atmosphäre, sucht er wie Schellnhuber sein Heil in der Etablierung einer Art ökologischer Weltregierung, die mittels „Unterbindungs- und gegebenenfalls Sanktionsregelungen“ sowie Besteuerungen von der UN- bis auf Kommunalebene „zukunftsfähige Lösungen“ praktisch durchsetzt. Störenfriede wie „neue Nationalismen“ und „zunehmender Populismus“, denen die „polyspektrale Sichtweise“ der Wissenschaft abgehe, seien durch die „Umsetzung des Weltbürgergedankens“ zu neutralisieren. Und zwar in einem Zug mit dem Umkrempeln des Völkerrechts und der Implementierung eines neuen Staatsbürger- und Aufenthaltsrechts. Die Nationalstaaten wären ja ohnehin, solange das „Weltparlament“ sich noch nicht konstituiert hat, lediglich „Sachwalter“ der das Erdsystem umbauenden Öko-Elite.

Deren Konzepte, auf der Basis des vom jüngsten Berliner Größenwahn zeugenden umweltpolitischen „Gesellschaftsvertrags“ Schellnhubers, sind mittlerweile perfektioniert worden und vergessen kein für die schöne neue Welt relevantes Alltagsdetail. Hingebungsvoll erörtert Leinfelder, der ein Faible für Ernährungsfragen hat, wie demnächst die globalen Speisepläne aussehen. Von der Tierzucht steige man auf Insekten um, von denen sich gegenwärtig schon zwei Milliarden Menschen ernähren. Sei dies für „unseren Kulturkreis nicht wünschbar“, ließen sich zumindest Aquakulturen auf Insektenfütterung umrüsten.

Ferner sei die Produktion von Fleisch aus dem Labor, funktionelle Lebensmittel (Nutraceutical) aus synthetischen Komponenten und aus dem 3D-Drucker anzukurbeln. Zudem müsse Nahrungserzeugung mitten in Städten stattfinden, was die Novellierung des Baurechts nach sich ziehe. Was wiederum Hand in Hand gehe mit Stadtplanungen zwecks „Stärkung des Zusammenlebens“ – nach Abschaffung des Individualverkehrs. Krönen werde die „Große Transformation“ die Gewährung eines „Menschenrechts auf höchstmögliche Erdsystemstabilität“.



„Das Zeitalter des Anthropozäns und die Notwendigkeit einer Großen Transformation – Welche Rollen spielen Umweltpolitik und Umweltrecht?“, in Zeitschrift für Umweltrecht, 5/17:
 www.zur.nomos.de/archiv/2017/heft-5/


Gegrillte Würmer und Heuschrecken auf Frühstückstisch: Für die Klimarettung von der konventionellen Nutztierzucht auf Insekten, Aquakulturen und funktionelles Synthetikfleisch umsteigen?