© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/17 / 25. August 2017

Fern jeder Realpolitik
Zweiter Weltkrieg: Obwohl Polen früher auf Kriegsreparationen verzichtet hat, läßt Warschau heute Ansprüche prüfen – nach über 70 Jahren
Bruno Bandulet

Beglichene Rechnungen soll man nicht noch einmal präsentieren – und schon gar nicht nach Jahrzehnten. Zwei europäische Länder halten das anders: Griechenland und Polen. Immer wieder einmal stellen sie Reparationsforderungen für den Zweiten Weltkrieg in exorbitanter Höhe.

So auch in diesem Sommer, als Jaroslaw Kaczynski, Chef der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), auf einem Kongreß seiner Partei eine „historische Gegenoffensive“ so ankündigte: „Wir reden von riesigen Beträgen und darüber, daß Deutschland sich lange geweigert hat, Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg zu übernehmen.“ Kaczynskis Parteifreund, Sejm-Abgeordneter Arkadiusz Mularczyk, bestellte unterdessen beim Wissenschaftlichen Dienst des polnischen Parlaments eine Expertise, welche rechtlichen Möglichkeiten es gebe, von Deutschland weitere Reparationen zu fordern. Die Ausarbeitung sollte am 13. August fertig sein, konnte aber bis heute nicht präsentiert werden.

1990 war letzte Gelegenheit, Ansprüche anzumelden

Derweil spielt die Phantasie. Die Rede ist von Summen, die sich willkürlich zwischen 845 und 1.800 Milliarden Euro bewegen. Noch kreativer betätigte sich das konservative polnische Wochenmagazin Sieci, das, nicht ohne Beigabe eines ganz großen Hitler-Fotos, titelte: „Sechs Billionen Dollar schulden uns die Deutschen für den Horror des Krieges.“ Sowohl rechtsgerichtete polnische Medien als auch die liberal-konservative Rzeczpospolita fahren gegenwärtig eine Kampagne in der Causa und spielen mit antideutschen Ressentiments.

Zu Wochenbeginn legten mehrere Abgeordnete der Regierung noch einmal nach: Kriegsreparationen sollte Polen auch von Rußland fordern, so beispielsweise die stellvertretende Vorsitzende der Sejm-Kommission für Auswärtiges, Malgorzata Gosiewska.

Das Ausmaß der Begehrlichkeiten steht im umgekehrten Verhältnis zu den Geschichtskenntnissen. Das leidige Thema Reparationen läßt sich zurückverfolgen bis Anfang August 1945, als sich die drei Siegermächte USA, Großbritannien und Sowjetunion in Potsdam auf einen Handel einigten. Die geplanten Reparationen sollten nicht, wie es die Sowjets wünschten, aus Gesamtdeutschland herausgezogen werden. Statt dessen sollte sich jeder aus seiner eigenen Besatzungszone bedienen – eine reparationspolitische Spaltung Deutschlands noch vor der endgültigen politischen Teilung. Im Gegenzug akzeptierten die Amerikaner die Oder-Neiße-Linie und die „Überführung“ der Ostdeutschen in den Westen. Außerdem wurde vereinbart, daß die Sowjetunion die Reparationsansprüche Polens aus ihrer Zone zu befriedigen hatte, während die Westmächte mit den übrigen Siegerstaaten teilten.

Damit lag es nicht in deutscher Zuständigkeit, wie die Vermögen und Sachwerte aufgeteilt wurden. Wieviel Polen bekam, einmal abgesehen von den riesigen deutschen Ostgebieten mit hervorragender Infrastruktur, lag allein in der Verantwortung Moskaus.

Ein wirklicher Schlußstrich wurde in Potsdam dennoch nicht gezogen. Zwar wurden schon 1947 Friedensverträge mit fünf Weltkriegsverbündeten Deutschlands abgeschlossen, in denen Reparationen genau festgelegt wurden – nicht aber mit Deutschland. So kam es, daß noch 1990 das Damoklesschwert der Reparationen über den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen schwebte.

Es gibt stichhaltige Hinweise darauf, daß Bundeskanzler Helmut Kohl damals nur deswegen mit der völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie zögerte, um im Gegenzug das Reparationsproblem loszuwerden. Dieses gelangte denn auch nicht in den Vertrag und war damit erledigt. Alle Seiten waren sich einig, daß der Vertrag eine endgültige Regelung der aus dem Krieg rührenden Fragen bringen sollte und als Ersatz für einen Friedensvertrag anzusehen sei. Das lag auch im deutschen Interesse, denn ein regulärer Friedensvertrag mit allen 55 Kriegsgegnern hätte langwierige Verhandlungen vorausgesetzt. 1990 hatte Polen die letzte Gelegenheit, Ansprüche anzumelden, tat es aber nicht.

Abgesehen davon hatte Polen schon 1953 auf weitere deutsche Reparationen verzichtet. 1972, als der Warschauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen ratifiziert wurde, zahlte Bonn 100 Millionen Mark für NS-Opfer – die dann von der polnischen Regierung größtenteils nicht an die Betroffenen ausgezahlt, sondern anderweitig verwendet wurden. Der Mißbrauch hinderte die Bundesregierung nicht daran, 1975 einen Finanzkredit von einer Milliarde Mark nachzuschieben, der sich später als Geschenk entpuppte. Zusätzliche Milliardenzahlungen flossen ab 1976 und nach 1991.

Gegenrechnungen aufzumachen gilt im heutigen Deutschland als politisch unkorrekt. Es war Willy Brandt, der im Zusammenhang mit dem Warschauer Vertrag gegenüber dem polnischen KP-Chef Wladyslaw Gomulka argumentierte, daß Polen ein Drittel des deutschen Staatsgebietes erhalten habe und dazu das Eigentum der deutschen Vertriebenen von kaum mehr schätzbarem Wert. Der materielle Wert des südlichen Ostpreußens, Ost-Pommerns, Ost-Brandenburgs und vor allem Schlesiens mit seiner Industrie, seinen Kohlebergwerken und anderen Rohstoffvorkommen: Wer wollte die Milliardenwerte berechnen!

Bleibt die Frage, warum die national-konservative Regierung leichtfertig und ohne größere Erfolgsaussichten dieses Faß aufmacht. Zum einen wohl, um bei ihrer nationalistischen Klientel zu punkten. Und zum anderen dürfte es sich um eine Retourkutsche auf die Maßregelungen aus Brüssel wegen der restriktiven polnischen „Flüchtlingspolitik“ handeln und auf die so empfundenen Angriffe auf die polnische Souveränität, die eben auch Berlin angelastet werden. Geschichtsbewußten Polen müßte freilich auffallen, daß ihre Regierung fern jeder Realpolitik – wie schon in der Zwischenkriegszeit – sich den Luxus leistet, sowohl den östlichen als auch den westlichen Nachbarn anzufeinden.

Noch dazu einen, der in der EU zuverlässig und klaglos den Zahlmeister spielt. Nach Berechnungen von Franz-Ulrich Willeke, emeritierter VWL-Professor an der Universität Heidelberg, kamen von den EU-Nettoleistungen, die Warschau im Zeitraum 2003 bis 2014 aus Brüssel erhielt, stolze 24,5 Milliarden Euro aus Deutschland. Und die Zahlungen fließen weiter, Jahr für Jahr.