© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/17 / 25. August 2017

Vom Platz gestellt
Kommerzialisierung im Fußball: Die Entfremdung zwischen Vereinen und Fans wird immer größer
Ronald Berthold

Meist schweigt Cem Özdemir, wenn Autos brennen, Gastronomen bedroht oder AfD-Politiker verprügelt werden. Oder der Grünen-Parteichef fordert, wenn er unverschämterweise doch auf Gewalttaten „politischer Aktivisten“ angesprochen wird, gern Augenmaß ein. Die dabei präsentierte Mischung aus Empörung, Nachdenklichkeit und Arroganz im Blick muß er so lange trainiert haben wie Julian Draxler seine Übersteiger. Alles nicht so schlimm. Schön die Luft aus dem Ball lassen.

Aber wenn die Umfragewerte fallen wie Tore gegen Brasilien im WM-Halbfinale, braucht es einen Sündenbock, an dem er die aufgestaute Aggression hinter der pazifistisch-verständnisvollen Fassade abreagieren kann. Dann wird Cem zum verbalen Hool. Es gelte, so skandierte er, „entschlossen und mit Härte gegen gewaltbereite Randalierer vorzugehen“. Plötzlich hörte er sich wie ein Law-and-Order-Mann an. „Wir können keine rechtsfreien Räume akzeptieren“, rief er aus – und zwar in Richtung Fankurven. Wirkliche rechtsfreie Räume wie die „Rote Flora“ sind irgendwie schon okay.

Seit dem DFB-Pokalspiel von Hertha BSC beim Drittligisten Hansa Rostock am vorvergangenen Montag sind Ausschreitungen im Stadion zum Wahlkampfschlager und Medienhit geworden. Wie früher die Gegenspieler der Förster-Brüder werden jetzt die Fans in die Zange genommen. Einerseits fahren am Rand der Niederlage stehende Halbprofis à la Özdemir die Blutgrätsche aus. Zum anderen vergackeiern Vereine und Verbände die zahlenden Zuschauer wie einst „Ente“ Lippens die Schiedsrichter. „Ich verwarne Ihnen“, hatte ein Unparteiischer zu dem legendären Essener gesagt. „Ich danke Sie“, entgegnete der Mann mit dem Watschelgang schlagfertig. Folge: die rote Karte. So humorlos vom Platz gestellt fühlen sich derzeit viele Freunde des runden Leders.

Für die Politik kamen die Szenen aus dem Ostseestadion wie gerufen in einem Wahlkampf, in dem es sich bei einem abnehmenden Sicherheitsgefühl der Bevölkerung anbietet, die innenpolitische Flanke zu schlagen. Nur: Wo ist das Kopfballungeheuer, das sie verwertet? Da die echte Gefahr nicht benannt werden darf, müssen es Fußballfans sein.

Dabei gehen die Parolen, mit denen friedliche Fans in Haftung für Radaubrüder genommen werden, an der Herausforderung im Fußball vorbei. Natürlich liegt das Problem bei Krawallmachern, die das Stadion als ihre Bühne nutzen. Aber die merkwürdige Zurückhaltung von hundert Polizisten, die die vor ihrer Nase entzündeten Feuerchen in dem leeren Rostocker Block sofort hätten austreten können, wirft Fragen auf. Erst dieses Nichtstun wegen einer angeblich verschlossenen Tür und die daraus resultierende lange Spielunterbrechung bot die Vorlage für die Wahlkampfrhetorik. Dabei kam in Rostock die von den Grünen gepredigte Deeskalationsstrategie zum wie üblich kontraproduktiven Einsatz.

Die Krawalle aus der Hansestadt nun mit den G20-Ausschreitungen in einem Atemzug zu nennen, zeigt, wie schnell Politiker und Journalisten bereit sind, populistische Fehleinschätzungen abzugeben. Denn verletzt wurde in Rostock niemand. Insofern stellt der Vergleich auch eine massive Verharmlosung linker Gewalt dar. Und anders als in Hamburg, wo sich die Demo-Veranstalter nicht von den brutalen Brandschatzern distanzieren wollten, geschah dies im Ostseestadion sehr wohl. „Und ihr wollt Hansa Rostock sein“, sangen die übrigen Fans deutlich vernehmbar und wütend in Richtung der Hooligans.

Das Thema Gewalt betrifft nur eine extrem kleine Anzahl Unbelehrbarer. Das tatsächliche Problem des Profifußballs liegt tiefer: Die Diskrepanz der Vereine zu den friedlichen Anhängern wird immer größer. In Hannover rufen die Ultras zu einem „Stimmungsboykott“ auf, weil Präsident Martin Kind die Mehrheit am Klub erwerben will. Beim Pokal-

endspiel in Berlin pfeifen Frankfurter und Dortmunder Fans gemeinsam Helene Fischer aus – nicht etwa, weil ihnen die Musik mißfallen würde, sondern weil ein solcher Live-Act beim Fußball nichts verloren habe. So fragwürdig die Ultras, die selbsternannten Gralshüter der Fußball-Tradition, zuweilen daherkommen, ihre wehrhafte Haltung gegen die Kommerzialisierung des Fußballs ist im besten Sinne des Wortes konservativ.

Was der Deutsche Fußball-Bund (DFB) und der Ligaverband (DFL) im Sinne des Geldverdienens nicht nur mit ihnen, sondern mit allen Anhängern treiben, paßt inzwischen nicht mehr in eine Stadionkurve. Da muß in der Regionalliga Südwest der FK Pirmasens als Sechstletzter absteigen – und im Gegenzug wird die chinesische U20 für die Rückrunde aufgenommen, damit diese sich auf große Turniere vorbereiten kann. Gegen Geld natürlich. Das DFB-Pokalfinale nicht mehr in Berlin, sondern aus Merchandising-Gründen in Fernost stattfinden zu lassen, diskutieren die Verantwortlichen tatsächlich ernsthaft.

Und ein Fan, der alle Spiele seines Vereins im Fernsehen sehen möchte, muß neben ARD und ZDF jetzt auch noch zwei weitere Bezahlsender abonnieren. Daß sich zahlreiche Anhänger nur noch als Melkkuh und stimmungsvolle Kulisse, ohne die der Sport zweifelsfrei sein Flair verlieren würde, wahrgenommen fühlen, ist kein Fußball-Wunder. Die Ablösesummen im dreistelligen Millionenbereich sind ein weiteres Symptom der Krankheit, mit der Klubs die Sportart infiziert haben.

Wer denkt an reisefreudige Fans, wenn ein Bundesliga-Spieltag ab dieser Saison auf mehr als eine halbe Woche – nämlich Freitag bis Montag – ausgedehnt wird? Eine Auswärtsfahrt zu buchen, wird immer schwieriger. Und bis die Tabelle feststeht, vergehen vier Tage. Macht das noch Freude? Die Sportart sei immer schneller geworden, heißt es; ein Spieltag dauert aber immer länger. Der Eindruck, den viele Zuschauer haben: Hauptsache, die Chinesen gucken zu und haben Spaß.

Menschen, die mit enormem Lokalpatriotismus in die Stadien gehen oder sich voller Leidenschaft die TV-Übertragungen anschauen, geraten ins Abseits. Immerhin verkauften die Klubs der ersten drei Ligen in der vergangenen Saison 21,3 Millionen Eintrittskarten. Es geht also nicht nur um die Ultras, die mit ihren ergebnisunabhängigen Gesängen in den Kurven und ihrer lautstarken Lobbyarbeit alle anderen übertönen. Sich der Ohnmacht der Fans anzunehmen, wäre für Politiker eine Spielhälfte, die sie beackern könnten. Doch diesen Zweikampf sucht niemand. Lieber zupfen sie am Trikot der Treuesten der Treuen. Dafür gäbe es auf dem Platz eine Verwarnung.