© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/17 / 25. August 2017

Wunschbilder statt Realitäten
Ist deutsche Außenpolitik Innenpolitik? Warum das Machbare nicht das Primat internationaler Politik ist
Peter Seidel

Wenn der deutsche Außenminister heute noch einer kleinen Stadt am Rhein nachtrauert, der Hauptstadt eines teilsouveränen und außenpolitisch gehandicapten Landes, dann ist das typisch: Dies war auch die Zeit, als Politologen mit neomarxistischem Ansatz versuchten, außenpolitische Interessen zu leugnen und Außenpolitik zur Innenpolitik umzudefinieren. Daran hat sich nach der Wiedervereinigung wenig geändert, wie die Sehnsucht Sigmar Gabriels zeigt. Trotz öffentlicher Absichtsbekundungen von „gewachsener Verantwortung“ wird „das politische Klima der Berliner Republik durch die Linksparteien bestimmt“, wie Christian Hacke in seinem maßgeblichen Werk zur deutschen Außenpolitik feststellte.

Um so weniger kann ein Buch überraschen, das die alte These von der Außenpolitik als Innenpolitik neu beleben will, zumal wenn dessen Leitfrage von der Autorin gleich zu Beginn keß verneint wird: „Muß Außenpolitik als Schönheitsmakel der Demokratie hingenommen werden?“ Man stelle sich den Aufschrei vor, würde der Satz umgedreht, ob Demokratie als Schönheitsmakel der Außenpolitik hingenommen werden müsse.

Isabelle-Christine Panrecks Titel über „Diskurse als Nährboden demokratischer Außenpolitik? Kriegsentscheidungen in der massenmedialen Öffentlichkeit“ klingt interessant, nimmt doch die Volatilität des Souveräns nicht nur bei Wahlen zu. Dies wäre für die Beurteilung der innenpolitischen Implikationen und Voraussetzungen außenpolitischen Handelns auch dann noch interessant, wenn sich bei der Lektüre nicht schnell herausstellte, daß es sich in beiden untersuchten Fällen eben nicht um Kriegsentscheidungen handelte, sondern darum, weder im Irak noch in Libyen einzugreifen! Also um „Nicht-Kriegsentscheidungen“: Daß dies keineswegs gleichgesetzt werden darf, wird klar, wenn man sich vorstellt, wie anders die innenpolitische Debatte sonst verlaufen wäre. 

Panreck interessieren vor allem innenpolitische „Möglichkeitsräume“ von Außenpolitik, die sich aus innenpolitischen „Diskursen“ ergeben sollen (aber mit außenpolitischen Handlungsspielräumen nicht verwechselt werden dürfen). Sie benutzt dabei einen „Frame-Ansatz“, unter dem man mehr oder weniger einheitliche, idealtypische Musterargumentationen unterschiedlicher, meinungsführender Interessengruppen verstehen soll. Allerdings trägt die Verwendung von Klassifikationen wie Framegruppen, Metagruppen oder Akteursgruppen zur Ordnung der Diskussion und Kennzeichnung ihrer Vertreter nicht wirklich bei. Dies gilt erst recht für so fragwürdige Frames wie „Treue“ (zu den USA), „Angst“ (vor Isolation) oder auch „deutscher Schuld“ (im 20. Jahrhundert). 

Daß so wirklich „zum Verständnis der Ausrichtung und Institutionalisierung nationaler Außenpolitik, zur Erklärung außenpolitischen Handelns und dem Zustandekommen von Entscheidungen sowie zu deren Einbettung und Kontextgebundenheit in europäische und internationale Staatensysteme“ beigetragen wird, wie der Soziologieprofessor Eckhard Jesse im Vorwort meint, ist mehr als fraglich, zumal angesichts des benutzten rein quantitativen Untersuchungsansatzes. Immerhin zeigt es, daß mittlerweile auch Soziologen mit ihrem traditionell innenpolitischen Ansatz in der Außenpolitik mitsprechen, auch wenn sie die Bücher dann doch unter der Rubrik „Parteien und Wahlen“ veröffentlichen. 

Panrecks Feststellung, daß in der Außenpolitik „der demokratische Charakter des Diskurses (...) die Grenzen der Möglichkeitsräume zieht“, ist fraglich: Politik ist Führung und Machterhalt. In der Innenpolitik kann eine Regierung abgelöst werden, darüber wacht in Demokratien ein oberstes Gericht, die Judikative. In der Außenpolitik kann sie allenfalls durch eine militärische Intervention aufgelöst werden, denn die internationale Politik funktioniert nicht nach demokratischen Spielregeln unter einem anerkannten obersten Gericht mit Sanktionsgewalt. Auch zunehmende Interdependenzen heben diese „prinzipiellen Unterschiede zwischen Innen- und Außenpolitik“ nicht auf. Und das heißt eben auch, „daß die Außenpolitik sich weniger in Möglichkeiten darbietet, als vielmehr unter dem Zwang zur Anpassung“ an die Gegebenheiten der internationalen Politik.

Gefährlicher Kollaps der politischen Ratio

Was Führung in der Außenpolitik bedeuten kann, zeigen einige Beispiele: die Kriegsentscheidungen, die die USA 1917 und 1941 gegen den erklärten Willen einer großen Bevölkerungsmehrheit in den Krieg und zum Aufstieg der USA zur Weltmacht führten sowie eine wild wuchernde Kriegszieldiskussion im kaiserlichen Deutschland, dessen Regierung vor wichtigen Interessengruppen wie dem Militär längst abgedankt hatte, was entscheidend zum Scheitern des Kaiserreiches beigetragen hat. Auch bei wichtigen Entscheidungen in der Politik der Bundesrepublik wie der Ostpolitik 1972 oder dem Nato-Doppelbeschluß 1983 führte die Debatte zu Polarisierungen, die die Außenpolitik der Regierung hätte scheitern lassen können. 

Bei der Europapolitik handelt es sich im Unterschied dazu um den Bereich der Außenpolitik, bei dem der innenpolitische Teil aus den verschiedensten Gründen am höchsten ist. Deshalb wäre hier eher als bei angeblichen Kriegsentscheidungen ein Feld, auf dem Panrecks Thesen und ein innenpolitischer Ansatz interessant wären. Zumal in Deutschland die Verteidigungspolitik immer stärker aus dem Bereich der Sicherheitspolitik in die Europapolitik verlagert wird und sich die Stimmen mehren, die angesichts von Parlamentsentmachtung und Politikverlagerung an EU-Institutionen von einer schleichenden Entdemokratisierung warnen, so beispielsweise Peter Graf Kielmansegg oder Dieter Grimm. Das dürfte sich nach der Bundestagswahl verstärkt zeigen, wenn es für Berlin darum gehen soll, eine politische Transfer-union zu forcieren. Und was, wenn es darüber dann gar keinen Diskurs mehr gibt, weil Parteien, Verbände, Organisationen alle einer Meinung sind? 

Es gibt immer Menschen, die ihre theoretischen Modelle nicht nur auf Fakten, sondern auch auf Wunschvorstellungen gründen und dann ins akademische Lehrfach oder in die Politik gehen, wo sie dafür den größten Spielraum haben. Hacke sprach hier einmal von der „aufgesetzten Gelehrsamkeit deutscher Politikwissenschaftler“, und der ehemalige Kanzler Helmut Schmidt warnte auf dem Hamburger Historikertag 1978 davor, Demokratie durch eine „naive Idealisierung (...) durch alliierte und selbstgemachte Reeducation“ zu überfrachten, was einen „gefährlichen Kollaps der politischen Ratio“ zur Folge haben könne. 

Doch solche realistischen Einwände scheinen zumindest im deutschen Wissenschaftsbetrieb kaum noch gefragt zu sein. Der Politikwissenschaftler Martin Wagner schrieb dazu: „Wer als Doktorand zum Realismus arbeitet, hat alle Chancen, niemals berufen zu werden“ (FAZ, 5. April 2017). Die Autorin dieses Buches ist inzwischen wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Institut für Politikwissenschaft an einer nordrhein-westfälischen Universität.

Isabelle-Christine Panreck: Diskurse als Nährboden demokratischer Außenpolitik? Kriegsentscheidungen in der massenmedialen Öffentlichkeit. Nomos Verlag, Baden-Baden 2017, broschiert, 372 Seiten, 74 Euro