© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/17 / 01. September 2017

„Die Auswirkungen waren desaströs“
Sie zählte zu den prominenten Gegnern der antiautoritären Erziehung. Der Therapeutin Christa Meves ging es nicht um Revolution, sondern um das Kindeswohl. – Nun zieht sie fünfzig Jahre danach noch einmal Bilanz
Moritz Schwarz

Frau Meves, ist die antiautoritäre Erziehung „an allem“ schuld? 

Christa Meves: Man tut ihr zuviel Ehre an, hält man sie für „die“ Ursache des allgemeinen Sittenverfalls. 

Was genau ist eigentlich antiautoritäre Erziehung? 

Meves: Der Begriff kam nach 1945 im Zuge einer atheistischen Liberalisierungsbewegung in der Philosophie mit Jean-Paul Sartre auf. Diese war ein europäischer Neuaufguß der Befreiungsidee, die mit der Französischen Revolution blutig begonnen hatte.

Also ist sie keineswegs ausschließlich ein Kindererziehungskonzept?

Meves: Nein, vielmehr eine Umerziehung der Bevölkerung, eine Veränderung der inneren Einstellung aller, eine Befreiung zu einer (marxistisch orientierten) gerechteren Gesellschaft. Dabei ist natürlich auch das Verhalten Kindern gegenüber von erheblicher Bedeutung und führte so zu einem rasant veränderten Trend bei den Erziehungskonzepten, umgesetzt besonders von Intellektuellen. Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin möchte ich mich damit in diesem Gespräch besonders beschäftigen.  

Viele verstehen unter „antiautoritär“ schlicht Laissez-faire. Liegen sie richtig?

Meves: Laissez-faire ist eine Übersteigerung der antiautoritären Einstellung: Das Abwerfen einengender Autorität wird radikal zum Programm erhoben. So entstand ein Absolutheitsanspruch im Hinblick auf die Befreiung von einengender Autorität. Zunächst war die antiautoritäre Erziehung eine kritische Tendenz gegen eine rigide einengende Überdisziplinierung der Kinder als durchgängiges Erziehungsprinzip mit gewaltsam erzwungenem Gehorsam. Die Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre nahm die antiautoritäre Erziehung und ihre Ziele begierig auf und verstärkte einseitig den Laissez-faire-Aspekt. Diese Revolte versuchte die gesamte verkorkste „bourgeoise Gesellschaft“ aus den Angeln zu heben und zum Teufel zu jagen. Befreiung von allem und jedem stand auf ihren Fahnen, auch von allen traditionellen Normen – selbst solcher mit kulturbildender Langzeitbewährung nach schmerzhaften Lernprozessen. Die Aktivisten sahen sich als Kämpfer für eine den menschlichen Bedürfnissen endlich entsprechende Lebensweise: Aufsprengen familiärer Strukturen, Beseitigung machtanmaßender Autorität, sowie die „Befreiung zur Sexualität“ waren die Eckpfeiler. 

Es handelte sich bei der antiautoritären Erziehung also tatsächlich in erster Linie um ein politisches Konzept? 

Meves: Aktivisten einer Erneuerungsbewegung verfügen anfangs selten über sorgfältig durchdachte Programme. Meist dominiert zunächst das Bedürfnis nach Veränderung. Deshalb entstehen viele wilde Schößlinge, unbedachte Irrwege und mißverständliche Übertreibungen. Solche Veränderungen haben grundsätzlich auch politische Ziele.

Von wem ging die antiautoritäre Erziehung als politisches Konzept ursprünglich aus? 

Meves: In Deutschland entfaltete sie sich als ein Ausläufer der amerikanischen antiautoritären Bewegung. Bereits in den sechziger Jahren hatte die dortige Befreiungsbewegung die pädagogische Landschaft in den USA breitflächig verändert – und zwar in einer extremen, jegliche Eingrenzung sprengenden Weise. Sie wurde sehr allgemein zu einer oberflächlichen Laissez-faire-Bewegung und führte als Trend zu einer unguten Übertreibung. Das „Laufenlassen“ der Kinder wurde sogar zu einer heuchlerischen Legitimation erzieherischer Nachlässigkeit und der Verweigerung elterlicher Verantwortung. Bald wurden in den USA die Folgen in einer beängstigenden Zunahme der Gewaltkriminalität sichtbar. In Europa wurde die antiautoritäre Erziehung zum Star-Modell einer allgemeinen Erneuerungsmode. Der britische Pädagoge A. S. Neill wurde mit seiner Heimschule Summerhill zu einem Taktgeber. In der Bundesrepublik wurden besonders die sogenannten Kinderläden zum Programm erhoben. 

Und das Bürgertum? 

Meves: Das stand hierzulande dem wilden Treiben mehr oder weniger staunend gegenüber. Es war nach dem Krieg eher noch mit einer Verfestigung seiner Strukturen beschäftigt. In seinen Augen war die Revolte eine befremdliche pubertäre Fehlblüte. Als Gefahr aber, die traditionellen Strukturen zu zerstören, wurde sie von der Allgemeinheit nicht durchschaut. Mit der Kanzlerschaft Willy Brandts wurde der linksliberale Trend und die allgemeingewordene Laissez-faire-Stimmung der antiautoritären Erziehung geradezu favorisiert. Sie dominierte in den Schulen und prägte die Lehrpläne. 

Sie gehörten zu den prominentesten Kritikern der antiautoritären Erziehung. Warum konnten Sie sich nicht durchsetzen? 

Meves: Meine Kritik ist Folge meiner Berufserfahrung als praktisch arbeitende Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Unzureichend eingebundene Kinder erleben ein ungebremstes Laufen-gelassen-Werden auf Dauer nicht als befriedigend. Es läßt vielmehr ein Gefühl von Schutzlosigkeit aufkommen. Sind sie vital, so macht sie das Ungebremste in unbewußter Selbstverteidigung sogar aggressiv. Deshalb ließ sich damals vom Fach aus prognostizieren, daß dieser Trend beim Umgang mit Kindern in vielen Fällen zu Verwahrlosungserscheinungen und damit zu einer erheblichen Zunahme von Gewalt und terroristischen Umtrieben führen würde. Eine Gegenbewegung in Gestalt einer echten natürlichen Erziehung vom Kinde aus ließ sich aber angesichts des linksliberalen Trends nicht installieren, weil in den Mainstream-Medien einheitlich und selbstgewiß der frisch-neue Wind fröhlich aus der gleichen Richtung blies. Wer hier zu kritisieren, gar vor Einseitigkeiten zu warnen wagte, wurde lustvoll ausgebuht. In ungezählten Fällen wurden Fachkompetente so mundtot gemacht; nicht selten ging das bis zur Vernichtung der beruflichen Lebensbedingungen der Warnenden. Der Widerstand reduzierte sich somit auf Träumer und Menschen mit hartnäckig-kämpferischem Mut für die Wahrheit.

Heute gilt die antiautoritäre Erziehung als überschießendes Achtundsechziger-Konzept, das sich überholt hat und historisch erledigt ist. Richtig oder ein Irrtum?

Meves: Die Geschichte lehrt: Lügen haben eben doch kurze Beine. Wenn der Mißerfolg auf dem Boden eines pädagogischen Konzepts, das den natürlichen Lebensbedürfnissen der heranwachsenden Menschen nicht entspricht, zu durchgängig ist und zu lange anhält, beginnt sich bei der Bevölkerung der gesunde Menschenverstand einzuschalten. Inzwischen wird etwa als Negativergebnis der liberalisierten Schulerziehung der allgemeine Leistungsverlust statistisch erkennbar. Hier hat es deshalb einen partiellen Umbruch, leider inklusive eines ebenso unnatürlich übersteigerten Anziehens der Leistungsforderungen gegeben. Antiautoritäre Tendenzen entschwanden dabei wie erschlaffte Luftballons – zumindest als allgemeiner schulischer Trend.

Welche gesellschaftlichen Mißstände heute sind Folge der antiautoritären Erziehung?

Meves: Die antiautoritäre Erziehung hat sowohl bei den Sozial- wie bei den Gesundheitssystemen zu einer gigantischen Überlastung beigetragen. Im Kleinkindalter verwahrloste Kinder schaffen seltener ihre Schulabschlüsse. Sie sind für eine berufliche Ausbildung im Mittelstand seltener vermittelbar. Kinder mit einem solchen Frühschicksal unterliegen leichter in all ihrem Suchen nach seelischer Befriedigung dem Angebot der Sucht durch Alkohol, Hasch, Heroin, Crystal Meth oder Pornosex. 

Heute wenig bekannt ist, daß Sie in Ihrer aktiven Zeit auch Opfer der antiautoritären Erziehung betreut haben.

Meves: Die Auswirkungen auf jene zum Beispiel, die in den maßgeblichen Jahren in Berliner Kinderläden gewesen sind, waren desaströs ohnegleichen. Viele von ihnen sind an Süchten zugrunde gegangen, andere vegetieren als Ruinen dahin. Therapierbar ist da nichts mehr. Solche Schicksale sind elend und jammervoll. Und auch in jedem Amokläufer steckt ein verzweifeltes Kind. Bei lediglich leichten Schäden bedarf es einer langfristigen, möglichst dualen Zuwendung, um die seelischen Wunden zu heilen und realistische Strukturen eigener Lebensbewältigung aufzubauen.

Häufig werden als gesellschaftliche Folge etwa rücksichtsloses Benehmen in der Öffentlichkeit, sinkendes öffentliches Vertrauen der Bürger untereinander, Disziplinlosigkeit und Lernprobleme von Schülern und Studenten, Anarchie an Schulen, mangelnder Respekt vor Polizei und Ordnung, Vandalismus, Gewalt und medizinische Phänomene wie ADHS betrachtet. Richtig oder falsch? 

Meves: Das sind zwar reichlich vorhandene Auswüchse in unserer Gesellschaft, aber sie sind keineswegs der antiautoritären Erziehung allein anzulasten. Sie sind in ihrer Vielzahl Folgen einer den Menschen unbekömmlichen Lebensform. Besonders wenn die Kinder in ihren ersten Lebensjahren unter unzureichenden Entfaltungsbedingungen groß geworden sind.

Welchen Anteil hat die antiautoritäre Erziehung daran?

Meves: Sie war lediglich Teilbereich einer zu künstlich, zu unnatürlich werdenden Lebensform. Sie war die Überschreitung einer notwendigen, natürlichen Beschränkung, also der Verlust von Maß, von bescheidener Vernunft auf dem Boden nüchterner Beobachtung. Vor allem aber war sie der Verlust von Liebe, Zuwendung und Verantwortung für unsere Kinder! Die antiautoritäre Erziehung hat sich überholt und richtet sich in ihren übertriebenen Ausläufern heute selbst zugrunde. Durch eine einsichtige Gesellschaftsveränderung, durch das Lernen aus ihren Mißerfolgen ließe sich konstruktiver Fortschritt erreichen.

Welche Konzepte können heute als Fortsetzung der antiautoritären Erziehung gelten und welchen Einfluß haben sie? 

Meves: Der konstruktive Teil der antiautoritären Erziehung war die Abwehr einer lebensfeindlichen Überdisziplinierung. Sie entsprang, wie gesagt, ursprünglich dem Geist der Französischen Revolution: Sie ist nicht eigentlich ein Kindererziehungsprogramm, sondern meint den revolutionären Protest der Ausgebeuteten gegen die unmenschliche Machtanmaßung der Mächtigen. Da es aber eben auch in der Kinderstube schädliche Machtanmaßung der Erziehenden gibt, läßt sich antiautoritäre Erziehung für ein gesundes Erziehungsmodell teilweise doch auch nutzen. Für eine kindgerechte, zu seelischer Gesundheit führende Erziehungsform ist partielle Freiheit in angemessener Form wichtig. Das Individuum Kind braucht vor allem in seiner Prägungsphase ein erhebliches Maß an Spielraum, um Intelligenz und Kreativität entfalten zu können. Dieser seelischen Entfaltungsanforderung mit entsprechenden Modellen nachzukommen, würde dem Ur-Impuls der antiautoritären Erziehung entsprechen und böte die Chance zu wirklich neuen, aber realistischen Erziehungsformen.

Seit Jahren gibt es eine Renaissance der Erziehung mit mehr Autorität. Ist das die Lösung?

Meves: Die Extreme berühren sich: Zuviel Autorität mit rigiden Gehorsamsforderungen im Kindesalter führt im Erwachsenenalter zu beeinträchtigten, sogar zu schwer gestörten Menschen mit Zwängen. Falls Menschen mit dieser charakterlichen Grundstruktur sich aber in irgendeiner Weise Macht erkämpfen können, entsteht in ihnen unbewußt die Neigung, die einstige Unterdrückung in Machtanmaßung umzuwandeln – ein Teufelskreis! Rigide disziplinierende Methoden mit einem Korsett von Gehorsamsforderungen sind auf jeden Fall falsch. Schwören wir aber weiter auf einen Absolutheitsanspruch an Freiheit, so werden wir sie verlieren, durch ein Übermaß an Krankheiten – und in den Zustand einer allgemeinen Schwäche geraten. „Dann werden klügere oder gesündere Völker das Erbe der kranken Gesellschaft antreten“, warnte ich bereits 1972 öffentlich für das kommende Jahrhundert. 

Hätte die autoritäre Erziehung nicht auch durch andere Reformkonzepte überwunden werden können?

Meves: Solche hat es in der Pädagogik der zwanziger Jahre in beglückender Weise gegeben: etwa mit Hildegard Hetzer, Maria Montessori, Gustav Siewerth, Eduard Spranger etc. Aber sie haben sich gegen einen maßlos atheistischen Akzent einer verabsolutierten Befreiung – auch von Gott und den Bedingungen seiner Schöpfungsordnung – zu unserem Schaden leider nicht allgemein durchsetzen können. 






Christa Meves, die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin machte sich durch zahlreiche Bücher und Medien-Gastbeiträge in den sechziger und siebziger Jahren einen Namen als Kritikerin zeitgeistiger Erziehungskonzepte. Von 1978 bis 2006 war sie zudem Mitherausgeberin der Wochenzeitung Rheinischer Merkur. Heute leitet sie die von ihr gegründete Fortbildungseinrichtung „Eltern Colleg Christa Meves“ (ECCM). Geboren wurde sie 1925 im holsteinischen Neumünster. 

Foto: Kind ohne Grenzen: „Wer hier zu kritisieren wagte, wurde lustvoll ausgebuht ... Fachkompetente mundtot gemacht, Warnende beruflich vernichtet.“

 

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