© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/17 / 01. September 2017

Mehr Flexibilität wagen
Europäische Verteidigungspolitik: Paris und Berlin wollen dem lockeren Bündnis mehr Leben einhauchen
Hans Brandlberger

Die Staats- und Regierungschefs der EU geizen nicht mit Superlativen, wenn sie die Bedeutung von Beschlüssen charakterisieren, die sie auf ihren Gipfeltreffen fassen. Auch am 22. Juni sprachen sie sich das Lob aus, auf ihrer Zusammenkunft in Brüssel einen „historischen Schritt“ vorangekommen zu sein.  Gegenstand ihrer Beratungen war diesmal die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), die zwar vertraglich fixiert ist und in der Vergangenheit vielfach beschworen wurde, im rauhen, von ökonomischen Problemen und der Migrationskrise geprägten Alltag in der EU  aber bislang kaum vorankam. 

Kostenersparnisse stehen im Mittelpunkt der Debatte  

Dies soll sich nun ändern, und der Zeitpunkt dafür scheint günstig gewählt. Die sicherheitspolitischen Bedrohungen Europas sind vielfältig. Die USA verlangen unter Trump von ihren Verbündeten mehr Engagement. Die Briten sind nach ihrem Brexit-Votum so fair, ihren Widerstand gegen eine engere verteidigungspolitische Zusammenarbeit in der EU, die de facto auf Parallelstrukturen zur Nato hinauslaufen könnte, aufzugeben.

Die Grundlage für den Brüsseler Gipfel bot ein Reflexionspapier, das die EU-Kommission wenige Tage zuvor veröffentlich hatte. Es skizziert mehrere denkbare Szenarien einer Fortentwicklung der GSVP, von denen das ehrgeizigste eine tiefe Integration der Streitkräfte, eine europäische Katastrophenschutztruppe sowie eine deutlich verstärkte gemeinsame Finanzierung und Beschaffung von Waffensystemen umfaßt. 

Ein derartiger Griff nach den Sternen steht jetzt allerdings nicht auf der Tagesordnung. Es geht um kleine, pragmatische Schritte, die dem Umstand Rechnung tragen, daß die Mitglieder der EU sich bislang noch nicht einmal darüber verständigen konnten, welche konkreten Ziele im Sinne des sogenannten „level of ambition“ mit der GSVP überhaupt verfolgt werden sollen. 

Das Instrumentarium dafür stellt der vor zehn Jahren unterschriebene Lissaboner Vertrag bereit. Wo die Gemeinschaft als Ganzes nicht vorankommt, erlaubt er einzelnen Mitgliedern, im Rahmen der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (SSZ; auf englisch PESCO: Permanent Structured Cooperation) unter dem Dach der EU die Initiative zu ergreifen – mit der Option, daß sich peu à peu weitere Staaten anschließen. 

Bislang wurde diese Möglichkeit nicht ergriffen. Allerdings gibt es Institutionen, die außerhalb des SSZ-Rahmens etabliert wurden und letztlich einer ähnlichen Philosophie folgen – zu nennen sind hier insbesondere das bereits 1993 aufgestellte Eurokorps mit Sitz in Straßburg, dem Truppen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Spanien unterstellt sind, sowie das Europäische Lufttransportkommando, das seit sieben Jahren von Eindhoven aus logistische Engpaßressourcen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und Spanien koordiniert.

In der Logik der SSZ liegt es, daß vor allem jene EU-Mitglieder gefordert sind, die Initiative zu ergreifen, die über ökonomisches und militärisches Gewicht verfügen. Drei Wochen nach dem Brüsseler Gipfel hat daher der deutsch-französische Ministerrat in Paris den Ball aufgenommen und sich zum Vorreiter gleich auf zwei Gebieten erklärt. 

Zum einen kündigten die beiden Regierungen eine Sahel-Initiative an, die den durch Krisen erschütterten Staaten Mali, Mauretanien, Burkina-Faso, Niger und Tschad Unterstützung bei der (auch militärischen) Stabilisierung sowie der wirtschaftlichen Entwicklung zusichert. Zum anderen identifizierten sie technologisch ambitionierte und entsprechend kostenträchtige Rüstungsprojekte, deren sich beide Staaten in Zukunft gemeinsam annehmen wollen. 

Dem Eurocopter soll nun ein Europanzer folgen 

Über die bereits vor zwei Jahren angestoßene „Eurodrohne“ (an ihrer Entwicklung beteiligen sich auch Italien und Spanien), einen Kampfpanzer der nächsten Generation, neue Seeaufklärungssysteme und eine Fortentwicklung des Kampfhubschraubers Tiger hinaus wurde insbesondere die Absichtserklärung, das „künftige Kampfflugzeug“ gemeinsam zu entwickeln, auch als industriepolitisches Signal verstanden. 

Aus dem Eurofighter-Programm hatte sich Frankreich schließlich abgemeldet und stattdessen auf eine nationale Lösung, die von Dassault produzierte Rafale, gesetzt. Dem Ziel, in der Entwicklung und Beschaffung von Rüstungsgütern enger zusammenarbeiten, haben sich aber nicht allein Deutsche und Franzosen verschrieben. Auch der neue Europäische Verteidigungsfonds soll dazu Anreize bieten. 

Bis 2019 will die Europäische Union  90 Millionen Euro für Verteidigungsforschung bereitstellen. Danach soll sich das Budget auf 500 Millionen Euro pro Jahr verstetigen. Für Entwicklung und Beschaffungen avisiert die Europäische Union ein Programm, das ab 2020 dann jährlich eine Milliarde Euro zu verteilen hat. 

Das ökonomische Argument, für diese bislang tabuisierten Zwecke EU-Gelder zu investieren, erscheint plausibel: Die Nationen vergeuden Mittel für Parallelentwicklungen. Die Anschaffungskosten für Systeme sinken, je größer ihre Stückzahl ist. 

Allerdings setzt dies voraus, daß auch einheitliche Anforderungen formuliert werden und nicht jeder Partner nationale Sonderlösungen beansprucht, die bei den Gemeinschaftsprojekten der Vergangenheit Kostentreiber waren. Grundlage dafür wären neben der Bereitschaft zur Arbeitsteilung und dem damit einhergehenden Verzicht auf nationale Fähigkeiten auch eine Harmonisierung der Einsatzregeln der Streitkräfte. 

Dies ist jedoch, wie die neue französische Regierung unmißverständlich zum Ausdruck gebracht hat, nicht zu erwarten. Die Vision, daß der neue Impuls für die GSVP langfristig in eine Europäische Armee münden könnte, mag in den Köpfen deutscher Verteidigungspolitiker herumspuken. Bei den europäischen Partnern stößt sie auf wenig Sympathie.

Dennoch läßt Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nicht locker. Die EU brauche eine Gemeinsame Europäische Verteidigungspolitik. Endgültiges Ziel, sei es auch „eines Tages“ eine europäische Armee zur Verfügung zu haben. Vor allem um „unserer Rolle in der Welt gerecht zu werden“. Da müsse man nicht Mitglied der Nato sein, so der Luxemburger beim Festakt des Europäischen Forums Alpbach im August 2016. Es reiche, wenn man sich an dieser europäischen Armee beteiligt, die ja keine klassische Angriffsarmee sein könne – dies entspreche weder europäischem Geschichtswissen noch Notwendigkeiten – sondern habe „einfach etwas mit der Wahrung unserer Rolle in der Welt zu tun“.