© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/17 / 01. September 2017

Licht- und Schattenseiten des Wissensdurstes
DFG-Jahresbericht: Die deutsche Forschungslandschaft zwischen Freiheit und Kontrollzwang
Dieter Menke

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) muß erhebliche Energie aufbringen, um die Balance zwischen „Freiheit und Verantwortung“ der Wissenschaft zu wahren. Das geht aus dem jüngsten DFG-Jahresbericht hervor. Wie groß der Handlungsbedarf beim „Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung“ ist, zeigt die 2016 etablierte „Kommission für Ethik sicherheitsrelevanter Forschung“, nach deren Muster bis Jahresende hundert Ableger an den Hochschulen und Forschungsinstituten eingerichtet werden sollen.

Einer der Auslöser, um mit diesen Kommissionen die „Dual Use“-Forschung, die gleichermaßen zum wissenschaftlichen Fortschritt und gesellschaftlichen Wohlstand wie zu „schädlichen Zwecken mißbraucht“ werden kann, effizienter zu kontrollieren, ist die aktuelle Diskussion über Experimente mit hochpathogenen Grippeviren, die auch für bioterroristische Angriffe benutzbar sind. Die Zuständigkeit der Kommissionen dürfte auch ein Feld berühren, das die Öffentlichkeit seit Jahrzehnten als Paradefall für die „Verantwortung“ von Wissenschaft wahrnimmt: Tierversuche.

Gefährliche Grippeviren für bioterroristische Angriffe?

Hier engagiert sich die DFG auf vielen Ebenen. 2016 überreichte DFG-Präsident Peter Strohschneider den mit 100.000 Euro höchstdotierten deutschen Tierschutzpreis an eine Forschergruppe der Abteilung Veterinärmedizin am Paul-Ehrlich-Institut in Langen, die ein neues Testverfahren entwickelte, das die äußerst belastenden Versuche – betroffen sind 600.000 Tiere jährlich – bei gesetzlich vorgeschriebenen Toxizitätsprüfungen reduziert. Gleichzeitig präsentierte die DFG-Senatskommission für tierexperimentelle Forschung eine Neuausgabe ihrer Broschüre „Tierversuche in der Forschung“, und im letzten Herbst startete, ebenfalls von den Bonnern gefördert, eine Allianz der Wissenschaftsorganisationen im Internet und in den sozialen Medien die Initiative „Tierversuche verstehen“. Vielfältiges Informationsmaterial wird offeriert, interaktive Diskussionen sind möglich, Alternativen zu der von Tierschützern angeprangerten „Quälerei“ finden breite Beachtung.

Doch die mit Hilfe von Kommunikationsprofis fabrizierte schöne Verpackung ändert nichts an der harten Botschaft: „Tierversuche sind unverzichtbar.“ Sie blieben die „Basis für neue Technologien, Therapien oder Medikamente“ und bildeten die „wesentliche Voraussetzung für den Fortschritt in der biologischen und medizinischen Grundlagenforschung“.

Wer dann hofft, im Herzstück des Jahresberichts, der exemplarischen Vorstellung laufender Forschungsprojekte, derartigen Nachtseiten des menschlichen Wissensdurstes zu entkommen, wird zumindest teilweise enttäuscht. Obwohl die Auswahl offenbar bemüht ist, vom rigoros ethischen Standpunkt unerfreuliche Ambivalenzen auszublenden und Forscher ausschließlich als „Helfer der Menschheit“ erscheinen zu lassen, will gerade ein Beispiel aus den Ingenieurswissenschaften nicht recht dazu passen.

Dabei geht es um eine Teildisziplin, die Robotik, die heute weit über die Fachwelt hinaus fasziniert (JF 13/17). Wie in einigen deutschen Instituten, so beschäftigt man sich im Sensory-Motor Systems Lab der ETH Zürich mit der Interaktion zwischen humaner und robotischer Sensorik und Motorik. Ziel ist es, den Alltag für Behinderte und Reha-Patienten autonomer zu gestalten. Dafür experimentiert ein Team aus Maschinenbauern, Programmierern und Medizinern mit Exosuits, dem Körper angepaßten, motorbetriebene Stützstrukturen, die partiell Querschnittgelähmten helfen sollen, aus ihrem Rollstuhl aufzustehen und kurze Strecken zu gehen.

Chronischer Streß wie Lärm verkürzt Lebenserwartung

Im Unterschied zu den steifen Exoskeletten ist der Exosuit eine Innovation, denn er paßt sich als eine Art Zusatzmuskel der vorhandenen Anatomie des Trägers an. Jedoch, so gesteht der Sportwissenschaftler Martin Grimmer, seien vor dem Masseneinsatz dieser „Gang-Assistenzen“ noch viele Probleme zu lösen, da sich das sensible Zusammenspiel von Sensorik und Motorik beim Aufstehen und Gehen als komplexer erwiesen habe, als man gemeinhin annehme. 

Was Grimmer hingegen nicht als ein Problem der Züricher Forscher erwähnt, sprach unlängst Katja Mombaur an, die als Professorin am Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen der Uni Heidelberg eine Arbeitsgruppe „Optimierung in Robotik und Biomechnaik“ leitet. Natürlich wolle sie mit ihrer Forschung nur dazu beitragen, Behinderten und alten Menschen so lange wie möglich Beweglichkeit und Unabhängigkeit zu erhalten. Trotzdem müsse sie einräumen: „Exoskelette werden auch im militärischen Bereich eingesetzt, um die natürlichen Kräfte des Menschen zu verstärken“, was „ethisch nicht unbedenklich“ sei. Der Mißbrauch technischen Fortschritts könne eben „leider nie ausgeschlossen werden“ (Universitas, 848/17). Auch nicht bei den „völlig neuen Fahrkonzepten“ einer vom Institut für Datentechnik und Kommunikationsnetze an der TU Braunschweig koordinierten DFG-Gruppe, die autonome Uploads sensorgestützter Systeme von Kraftfahrzeugen entwickelt. Eine „algorithmische Herausforderung“, die erst gemeistert ist, wenn durch Selbstanalyse des Fahrzeugs ohne menschliches Zutun die Sicherheitsstandards gewährleistet sind: „Sonst würde keine Zertifizierungsagentur, kein Kraftfahrtbundesamt akzeptieren, was wir da tun“. Dann gäbe es für die „selbstbewußten“ Modellautos der Braunschweiger nur noch einen „unbedenklichen“ Parcours – die Oberfläche fremder Planeten, die sie auf kosmischen Expeditionen vermessen könnten. 

Moralisch einwandfrei geht es bei den Forschern des Max-Planck-Instituts für Ornithologie im bayerischen Seewiesen zu. Die DFG finanziert seit 2016 deren Untersuchungen zu „verhaltensphysiologischen Effekten von Verkehrslärm auf Vögel“. Ohne daß die gefiederten Versuchstiere zu Schaden kommen, soll von ihrem Opfer für die Wissenschaft der Mensch profitieren. Denn jährlich, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO, stürben in der EU 200.000 Menschen an lärminduzierten Krankheiten und Millionen litten lärmbedingt an erhöhtem Blutdruck und Schlafstörungen. Erste am Modellorganismus der Seewiesener Vögel abgelesene Resultate deuten auf Kausalitäten zwischen Lärm und Zellalterung. Chronischer Streß wie Lärm verkürzt die Telomere, die endständigen Sequenzen auf den Chromosomen, die mit der Lebenserwartung zusammenhängen. 

Themenheft „Körper und Geist“ der Wissenschaftszeitschrift Universitas, Heft 848/17:  www.heidelberger-lese-zeiten-verlag.de





Deutsche Forschungsgemeinschaft

Aufgabe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ist es, mit ihrem steuerfinanzierten Drei-Milliarden-Etat den Wissenschaftsstandort Deutschland zu fördern. Die DFG entstand 1951 aus der 1920 gegründeten Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und dem 1949 konstituierten Deutschen Forschungsrat. Mit der Auflösung des Forschungsrates der DDR wurde die Bonner DFG gesamtdeutsch tätig. Zwei Drittel ihres Etats kommen vom Bund, der Rest von den Bundesländern. DFG-Präsident ist seit 2013 Peter Strohschneider, der an der Uni München den Lehrstuhl für Germanistische Mediävistik innehat. Etwa 750 Mitarbeiter sind direkt für die DFG tätig. 2016 wurden über 31.000 Projekte gefördert. Mit 1.052,5 Millionen Euro floß 2016 der Löwenanteil Fördergelder in die Lebenswissenschaften (Medizin/Biologie/Agrar). Die Naturwissenschaften erhielten 664,8 Millionen, die Ingenieurwissenschaften 584,5 Millionen sowie die Geistes- und Sozialwissenschaften 468 Millionen Euro.

DFG-Jahresbericht 2016:  www.dfg.de/