© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/17 / 01. September 2017

Der Flaneur
Achtung, Zeckenbisse
Paul Leonhard

Die Schlange ist zwar nur kurz, aber sie bewegt sich nicht. Die ältere Frau vor dem Schalter will irgendwohin ins Nirgendwo Westsachsens. Gruppenreisekarte, Fahrradkarte, Bahncard – die Verkäuferin tippt auf der Tastatur und blickt ratlos auf den Bildschirm. Die Frau wiederholt immer wieder laut und deutlich artikulierend ihr Reiseziel. Wir alle in der Schlange kennen es inzwischen. Der Zeiger der Bahnofsuhr rückt vorwärts.

Linksxtremisten aus dem Jugendcamp

proben die reine Lehre in der Praxis.

Plötzlich ein Wunder: Ein zweiter Schalter öffnet. Ein junger Mann stößt die vor ihm stehenden beiden Mädchen leicht an: „Wolltet ihr nicht ein Ticket kaufen?“ Eine geht zum Schalter, während sich die andere mit einem Tip bedankt: „Du siehst so zeckig aus“, sagt sie zu dem schwarz gekleideten und deutet auf dessen Aufnäher. „Draußen kontrolliert die Polizei in der gesamten Innenstadt Leute, die so aussehen.“ Der Mann schaut verdattert. Man spürt förmlich, daß er sich am liebsten sofort in einem Spiegel betrachten möchte.

Ich bin nach Görlitz gereist, um mich auf die Spuren von Jakob Böhme zu begeben. Der Schusterphilosoph hat hier Anfang des 17. Jahrhunderts seine wichtigsten Werke geschrieben. Die Kernaussage: In allem lebt ein Widerspruch – Gutes und Böses. 

In der Innenstadt begegnen sich die Widersprüche gerade. Polizisten beenden eine Demo vor dem Gericht. Ein unbeteiligter Rentner geht dabei zu Boden. Extremisten aus dem linksalternativen Jugendcamp proben die reine Lehre in der Praxis. In dieser sitzen aber die Handgriffe der erfahrenen Beamten. Die aufgestaute Wut bekommt ein Mitarbeiter der AfD ab, dem ein Linksextremist bei einem spontanen Überfall im Büro in den Arm beißt.

Das alles lese ich am Abend auf der Rückfahrt im Online-Auftritt der örtlichen Tageszeitung. Die Seniorin gegenüber studiert die Apothekenzeitung. In dieser wird vor Zecken und ihren Bissen gewarnt. Schnelles Handeln sei gefragt, um Schlimmeres zu verhindern.