© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/17 / 08. September 2017

Der Staat bin icke, wa?!
Volksabstimmung: Der Berliner Senat will das Votum ignorieren, falls die Bürger für eine Offenhaltung des Flughafens Tegel stimmen
Ronald Berthold

Großeinsatz der Berliner Polizei am Flughafen Tegel. Vergangene Woche zwangen gut ein Dutzend Beamte die dort wartenden Taxifahrer, Aufkleber von ihren Wagen zu entfernen. Im Visier standen Sprüche wie „Berlin – Weltstadt oder Provinz?“ und „Tegel bleibt offen“. Wer den Sticker behalten wollte, durfte nicht weiterfahren. Die Razzia, initiiert vom zur Innenverwaltung gehörenden Landesamt für Ordnungsangelegenheiten, belegt die Nervosität des Senats vor der Volksabstimmung am 24. September. 

Angela Merkel ist               für die Schließung

Gleichzeitig mit der Bundestagswahl entscheiden die Berliner darüber, ob der Flugbetrieb an ihrem bisher größten Airport weitergeführt wird oder nicht. Der rot-rot-grüne Senat hält wie schon die SPD/CDU-Vorgängerregierung daran fest, Tegel zu schließen, wenn der Großflughafen BER eröffnet wird. Laut Umfragen sind damit 55 bis 60 Prozent der Wahlberechtigten nicht einverstanden. Sie wollen für die Offenhaltung stimmen.

Ein solches Ergebnis wäre eine verheerende Niederlage insbesondere für den Regierenden Bürgermeister Michael Müller. Er will die Schließung und hat erklärt, dies auch im Falle eines Pro-Tegel-Votums durchzuziehen. Außer dieser Ankündigung, den Wählerwillen ignorieren zu wollen, hörte Berlin inhaltlich von ihm nichts. Eine Debatte im Abgeordnetenhaus über das Thema verließ er sogar, ohne sich zu äußern. Führungsschwäche werfen ihm nicht nur Vertreter der Oppositionsfraktionen von CDU, AfD und FDP vor. Selbst in den seiner Regierung meist wohlgesonnenen Berliner Medien keimt Kritik auf. Immerhin steht ein Volksentscheid an – und der erste Mann der Stadt taucht ab.

Zusätzliche Brisanz erhält die Abstimmung dadurch, daß Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Gegensatz zu ihrem Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) für die Schließung Tegels plädiert und „Nein“ ankreuzen wird. Sie konterkariert damit einen Mitgliederentscheid ihres Berliner Landesverbandes vom Juli. 83 Prozent hatten sich für den Weiterbetrieb entschieden. Die bis dato ebenfalls auf Schließungskurs liegende Spitze der Landespartei um Monika Grütters war daraufhin umgeschwenkt und wirbt nun mit AfD und FDP für ein „Ja“. Wobei führende Christdemokraten wie Vize-Landeschef Thomas Heilmann dies schon wieder mit „zeitlich befristet“ einschränken. 

Großer Gewinner sind – unabhängig vom Ergebnis – bereits jetzt die Berliner Liberalen. Sie hatten noch aus der außerparlamentarischen Opposition heraus federführend das erfolgreiche Volksbegehren getragen und sich als „Tegel-Retter“ inszeniert. Mit diesem Ein-Thema-Wahlkampf schaffte die 2011 auf 1,8 Prozent geschrumpfte Partei im vergangenen Herbst den Einzug in den Landtag.

Ob ein „Ja“ der Berliner ausreicht, um den Airport offenzuhalten, ist fraglich. Denn die Hauptstadt hat den Landesentwicklungsplan für die Flughäfen gemeinsam mit Brandenburg beschlossen. FDP-Mitglieder haben daher jetzt im Nachbarland den Verein „Brandenburg braucht Tegel“ gegründet. Auch dort soll demnächst ein Volksbegehren starten.

Tegel ist durch seine Sechseck-Architektur ein Flughafen der kurzen Wege. Mit dem Auto oder Taxi kann sich der Passagier direkt vors Gate fahren lassen. Von dort sind es nur wenige Schritte durch die Sicherheitskontrolle bis ins Flugzeug. Neben diesem Alleinstellungsmerkmal dürfte bei den Befürwortern auch Nostalgie eine Rolle spielen. Zudem hat sich die Schließung des Zentralflughafens Tempelhof im nachhinein für viele als Fehler herausgestellt. Seitdem hat der Flugverkehr nochmals stark zugenommen. Tegel und auch Schönefeld sind hoffnungslos überlastet.

Die Erkenntnis, daß der BER schon bei seiner Eröffnung zu klein sein wird, spielt den Tegel-Befürwortern ebenfalls in die Hände. Daher war es kein Zufall, daß die Flughafengesellschaft nun kurz vor dem Volksentscheid bekanntgab, den neuen Hauptstadt-Airport deutlich zu vergrößern. In vier Schritten soll die Kapazität von jetzt 22 Millionen Fluggästen jährlich auf 55 Millionen 2035 erhöht werden.

Allerdings haben alle Nachrichten um den „Pannenflughafen“ ein schweres Glaubwürdigkeitsproblem. Zahlreiche Eröffnungstermine wurden verschoben. Nachdem er zunächst 2012 in Betrieb gehen sollte, war es dann das Frühjahr 2013, danach der Herbst desselben Jahres. Zuletzt war 2018 im Gespräch. Dann blieben weitere Ankündigungen aus – bis jetzt. Kurz vor der Tegel-Abstimmung – auch das sicher nicht zufällig – wurde der Herbst 2019 als endgültiger Termin versprochen.

Ob das allerdings einen Stimmungsumschwung unter den Berlinern bewirken wird, scheint zweifelhaft. Im Gegensatz zum BER hat sich Tegel als zuverlässig erwiesen. Auch die Infrastruktur paßt. Wer dort landet, braucht wiederum nur wenige Meter zum Taxi und kann sich auf den Heimweg machen – allerdings ohne Bekenntnis zu Tegel. Die Aufkleber bleiben verboten.