© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/17 / 08. September 2017

Die verweltlichten deutschen Kirchen und der Krieg der Kulturen
Zuckererbsen für jedermann
Konrad Adam

Die Engelsburg, Grabmal des römischen Kaisers Hadrian, liegt nicht sehr weit entfernt vom Vatikan, der Residenz der Päpste. Diese Lage hat ihr Schicksal bestimmt, denn anders als die meisten antiken Bauten ist die Engelsburg nicht nur erhalten, sondern im Laufe der Jahrhunderte zu einer Festung ausgebaut worden, in der die Päpste Zuflucht fanden, wenn die Stadt von fremden Heeren belagert oder geplündert wurde – was leider ziemlich oft geschah.

Der Besuch der Festung lohnt. Ist man über die Kasematten, die dunklen Treppen und gewundenen Gänge bis in die Mitte der weitläufigen Anlage vorgedrungen, steht man plötzlich vor dem Herzen der damaligen Kirche: einer riesigen, eisenbeschlagenen Truhe, in der die Reichtümer gesammelt und verwahrt wurden, die der Papst in seiner Doppeleigenschaft als weltlicher und geistlicher Herrscher von den Gläubigen und seinen Untertanen erhoben hatte.

Der Versuchung, den Schatz nicht nur im Himmel zu verwalten, sondern schon auf Erden zu genießen, konnte und wollte die Kirche nur selten widerstehen. War sie auf diesem Weg zu weit gegangen, traten Reformbewegungen wie Zisterzienser und Franziskaner, Hussiten, Brüdergemeinden oder Dissenter mit der Forderung auf den Plan, zu den Ursprüngen des Christentums zurückzukehren. Der letzte und, wenn man so will, erfolgreichste dieser Reformatoren war Martin Luther.

Um das Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Macht zu bestimmen, griff Luther auf die Geschichte vom Zinsgroschen zurück. Dort antwortet Christus auf die Frage, ob man der Obrigkeit Steuern zahlen soll: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist!“ Die Antwort diente ihm als Quelle für die Lehre von den zwei Gewalten, vom Gegensatz zwischen irdischer und himmlischer Macht, die in der Geschichte Europas eine so folgenreiche Rolle gespielt hat.

Der Gegensatz war konstitutiv für das, was den Kern der christlichen Lehre ausmacht. Denn bedingungsloser Gewaltverzicht, wie er von den Evangelien gefordert wird, verlangt nach demonstrativer Distanz zum Staat, der mit Gewalt drohen, sie äußerstenfalls auch anwenden darf, um seine Aufgaben zu erfüllen. Zu Recht sieht Max Weber in der Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit, anschaulich formuliert in dem Gebot, dem Gegner, der einen auf die rechte Backe geschlagen hat, auch noch die linke hinzuhalten, eine Zumutung, eine Ethik der Würdelosigkeit – außer für einen Heiligen, wie Weber hinzusetzt.

Aber Politiker sind keine Heiligen, sollen auch keine sein; der Staat hat einen anderen Auftrag als die Kirche. Weshalb der Wunsch, die Bergpredigt zum Maßstab der Politik zu machen, weniger guten Willen als beträchtliche Naivität verrät. Ein kluger Mann der Kirche, Kardinal Charles Lavigerie (1825–1892), weniger romantisch veranlagt als seine Amtsnachfolger, soll auf die Frage, ob er dem Gegner, der ihn auf die eine Backe geschlagen hat, denn auch noch die andere hinhalten würde, geantwortet haben: Er wisse, was er tun müsse, wisse aber nicht, was er tun würde. Das Dilemma ist unvermeidlich. Man kann es ignorieren oder leugnen; entkommen kann man ihm nicht.

Daß der Mensch dem Menschen nicht nur Bruder, sondern auch Wolf ist; daß es die Aufgabe des Staates ist, ihn vor dem Wolf zu beschützen; daß feste Grenzen das beste Mittel für diesen Schutz sind – davon wollen deutsche Kirchenfürsten nichts hören. 

Als vor zwei Jahren das deutsche und europäische Grenzregime unter dem Druck der neuen Völkerwanderung zusammenbrach, wurde lauter als je zuvor danach gerufen, Politik nach Maßgabe des Evangeliums zu machen. Die Kanzlerin begründete ihren einsamen Beschluß, die Grenzen für Menschen aus aller Welt zu öffnen, mit humanitären Erwägungen, und die Häupter der beiden Kirchen stimmten ihr begeistert zu. Noch nie dürfte das Gleichnis vom barmherzigen Samariter so oft und so beifällig zitiert worden sein wie im Herbst des Jahres 2015, nicht nur in Kirchen, sondern auch auf Parteiversammlungen, im Bundestag und vor Gericht: ein neues Bündnis von Thron und Altar. Nur daß der Priester diesmal nicht wie unter dem Kaiser Kanonen segnete, sondern auf einem importierten Flüchtlingsboot eine Messe zelebrierte.

Wer in dem Boot saß, wieviel er für die Überfahrt bezahlt hatte, mit welchen Erwartungen er sich auf den Weg machte, was er zum Leben in der neuen, ungewohnten Umgebung beitragen kann oder will, danach fragt niemand mehr. Man soll und darf danach nicht fragen, wenn es mit der humanitär bemäntelten Flüchtlingspolitik weitergehen soll wie bisher. Die Retter leben schließlich von der Kunst, den einzelnen, konkreten Menschen hinter der Menschheit als abstrakter Idee verschwinden zu lassen. Ohne das falsche Pathos, das ihre Aktivitäten begleitet, wären sie längst am Ende.

Je klarer die Folgen dieser Politik vor Augen treten, desto weniger bleibt von ihrem hochgemuten Anspruch übrig. Angesichts der Horden von halbnackten, schreienden und wild gestikulierenden Schwarzen, die neulich die spanische Exklave Ceuta überrannt hatten, dürften die meisten Europäer etwas von dem Ernst und dem Schrecken verspürt haben, „die der Idee der Menschheit innewohnen, sobald nun wirklich alle Völker auf engstem Raum mit allen anderen konfrontiert sind“ – so Hannah Arendt.

Je besser die Völker einander kennenlernen, fährt sie fort, desto mehr scheuen sie begreiflicherweise vor der Idee der Menschheit zurück – begreiflicherweise! Eben das können und wollen die Bischöfe und Kirchenpräsidenten aber nicht zugeben. Daß der Mensch dem Menschen nicht nur Bruder, sondern auch Wolf ist; daß es die Aufgabe des Staates ist, ihn vor dem Wolf zu beschützen; daß feste Grenzen das beste, bis auf weiteres wohl auch das einzig wirksame Mittel sind, ihm diesen Schutz zu gewähren – das sind Wahrheiten, von denen die deutschen Kirchenfürsten nichts hören wollen.

Der Fremde muß willkommen sein, immer und überall. Also auch dann, wenn er seinen Namen und seine Herkunft verschweigt, wenn er Anstand und Gesetz mißachtet und gar nicht daran denkt, sich den Gewohnheiten des Landes zu fügen, das ihm in der Not Aufnahme gewährt und Hilfe geboten hat. Wer da nicht mitmacht, zögert oder widerspricht, wird als Fremden- oder Menschenfeind angeprangert und findet in der Amtskirche keinen Platz.

„In der Welt habt ihr Angst“, heißt es bei Johannes, „aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Hier und heute Angst zu haben, ist nicht nur verständlich, sondern auch vernünftig, weil die Angst eine evolutionär erworbene Eigenschaft ist, die uns vor Gefahren warnt. Und davon, von den Gefahren, gibt es ja genug, seitdem es der Politik im Bündnis mit den Kirchen gefallen hat, die Grenzen zu öffnen und Menschen aus aller Welt unkontrolliert ins Land zu lassen. Der Terror sei in Deutschland angekommen, wir müßten mit ihm leben, erklärt uns der Innenminister ungerührt: Ist das nicht Grund genug, um Angst zu haben? Die Schriftstellerin Monika Maron hat sich zu dieser Angst bekannt und öffentlich danach gefragt, was ihr die fremde Frau mit ihrem Kopftuch denn wohl sagen will.

So soll, so darf man allerdings nicht fragen, denn aus der Frage spricht ja Angst, und Angst ist nach der Lehrmeinung der deutschen Kirchenfürsten unchristlich, die tödlichste von allen Sünden. „Diejenigen, die Angst verbreiten wollen, werden nicht den Sieg davontragen“, verkündet der Ratsvorsitzende der EKD, „wir werden ihnen diesen Triumph nicht gönnen.“ Und sein katholisches Gegenüber pflichtet ihm bei: Die tiefste Ursache der Sünde, „also auch der Gewalt und des Hasses“, sei die Angst, verkündet Reinhard Kardinal Marx, der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz.

Die Kirchen wollen sich zur Welt hin öffnen. Weil die Welt aber nicht so ist, wie sie sein soll, wird sie verklärt; also verkannt. Alle Gegensätze werden geglättet, alle Unterschiede abgeschliffen, so lange, bis auch im christlichen Gottesdienst Allah gepriesen werden kann.

Ob das genügt als Antwort auf die Wirklichkeit? Die sieht ja doch ganz anders aus. Ausgerechnet in jener Stadt, in der die Scharia-Polizei ihre ersten Wachsoldaten auf Streife geschickt hatte; in der die ordentliche Gerichtsbarkeit lahmt, nachdem ganze Straßenzüge  unter die Herrschaft von sogenannten Friedensrichtern geraten sind; in der die Schule nicht zum Zuge kommt, weil der Unterricht durch die vom Islam vorgeschriebenen Gebetszeiten immer wieder unterbrochen werden muß: ausgerechnet in Wuppertal schwärmt die Superintendentin des Kirchenkreises, Pfarrerin Ilka Federschmidt, von der verlockenden Aussicht, sich im Gespräch mit Moslems auf das gesellschaftliche Leben, auf demokratische Grundsätze, auf Gleichberechtigung, religiöse Vielfalt und Toleranz einzulassen, und zwar „auf gute Weise“.

Kein Wort über die Feindschaft, die dieser romantisch verklärten Weltsicht von seiten der Muslim-Bruderschaften entgegenschlägt. Nichts über die Minderwertigkeit der Frau, über die Verachtung demokratischer Grundsätze, über das barbarische Gebot, den Glaubenswechsel mit dem Tode zu bestrafen, über die Drohungen gegen Juden und Christen, von denen der Koran voll ist. So etwas paßt nicht, wird verschwiegen und verdrängt; statt dessen Zuckererbsen für jedermann! Den verwegenen Traum vom Himmelreich auf Erden träumt heute auch die Kirche.

In der „Einen Welt“, von der die Kirche träumt, sollen die christlichen Tugenden, sollen Freiheit und Gleichheit, Toleranz und Nächstenliebe allen Menschen zuteil werden; also auch denen, die diese Begriffe gar nicht kennen, sie offen mißachten oder von ihnen ganz andere Vorstellungen haben als der Westen. Der Krieg der Kulturen, den Samuel Huntington vorausgesehen hatte, wird sich so einfach aber nicht vermeiden lassen; in London und Paris, in Duisburg und Berlin ist er ja längst schon da. Wer ihn gewinnt, wird nicht durch fromme Worte, sondern durch nackte Zahlen entschieden; und die sprechen für den Islam. „Wir werden den Rechtsstaat achten“, hatte Nadeem Elyas in seiner Eigenschaft als damaliger Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland gesagt, „solange wir in der Minderheit sind.“ Und dann?

Die Kirchen wollen sich zur Welt hin öffnen. Weil die Welt aber nicht so ist, wie sie sein soll, wird sie verklärt; also verkannt. Alle Gegensätze werden geglättet, alle Unterschiede abgeschliffen, so lange, bis auch im christlichen Gottesdienst Allah gepriesen werden kann. Schon heute wagt der oberste Repräsentant der EKD nicht mehr zu sagen, ob es derselbe Gott ist, zu dem Christen und Moslems beten, oder ein anderer. Am Ende steht dann irgendwann der eine, der vage, der unbekannte Gott, ein Wesen ohne Eigenschaften, in dessen Haus sich die Menschheit selbst verehrt.

Eine solche Menschheit, schrieb der Franzose Julien Benda vor etwa hundert Jahren, werde keinen anderen Gott mehr kennen als sich selbst. Sie könne Großes vollbringen, „will sagen: auf grandiose Weise von ihrer Umwelt Besitz ergreifen und ein fröhliches Bewußtsein von ihrer eigenen Macht und Herrlichkeit erlangen. Und die Geschichte wird lächeln bei dem Gedanken, daß Sokrates und Jesus für diese Spezies gestorben sind“.






Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der FAZ und Chefkorrespondent der Welt. Adam gründete die Alternative für Deutschland mit und war bis Juli 2015 einer von drei Bundessprechern. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Wahrhaftigkeit, Lügen und die Gabe der Unterscheidung („Die Wahrheit als Waffe“, JF 19/17).

Foto: Schote Zuckererbsen: Den verwegenen Traum vom Himmelreich auf Erden träumt heute auch die Kirche