© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/17 / 15. September 2017

Die Ideologie muß nur halbwegs passen
Afghanistan: Im Schatten der Taliban sucht der Islamische Staat am Hindukusch Fuß zu fassen
Gabriel Burho

Am 15. Juni 747 hißte der schiitische Agitator Abu Muslim im heutigen Turkmenistan ein schwarzes Banner auf dem in weißen Lettern die Shahada, das islamische Glaubensbekenntnis, geschrieben stand, und signalisierte damit den Beginn des Aufstandes gegen das Umayyadenkalifat in Damaskus. Chorasan, der äußerste Osten des Kalifats, wurde zum Ausgangspunkt eines Flächenbrandes, der das Ende der Herrschaft der Umayyaden und ihre fast vollständige Auslöschung sowie den Aufstieg des Bagdader Kalifats der Abbasiden einläutete. 1270 Jahre später sind die schwarzen Banner nach Chorasan – ins heutige Afghanistan – zurückgekehrt und verdrängen in einigen Distrikten die weißen Banner, ebenfalls mit Shahada, der Taliban.

Eine Gruppe Unzufriedener  reicht für eine Terrorzelle 

Der Konflikt zwischen den beiden Gruppen schwelt, seit sich al-Baghdadi 2014 in Mossul zum Kalifen ausrief. Al-Qaida mußte hinnehmen, daß sich die irakische Filiale selbständig machte, expandierte, und nun selbst den Treueeid forderte. Um dem real existierenden Kalifat etwas entgegenzusetzen propagierte al-Qaida den Anspruch des Taliban-Führers, da dieser die älteren Rechte habe und zudem besser qualifiziert sei.

 Leider war Mullah Omar zum Zeitpunkt bereits tot, wie 2015 bekannt wurde. Zudem sprachen die Anfangserfolge und die professionellere PR-Maschinerie des IS-Kalifats für Baghdadi. So dehnte sich das Kalifat von 2014 bis Ende 2015 durch den freiwilligen Anschluß anderer Gruppen aus. So auch in Afghanistan, wo unzufriedene Mitglieder der Taliban und der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU) im Januar 2015 den Treueeid leisteten und das Wilayat (Provinz) Chorasan ins Leben riefen. Vor allem aus den südlichen Distrikten der Provinz Nangarhar an der Grenze zu Pakistan kamen erste Berichte und Videos, welche des Training von Kämpfern und den Unterricht von Kindern zeigten. 

Was bedeutet nun aber die Ausrufung einer solchen IS-Provinz? Sicherlich nicht eine zentral gelenkte und ideologisch einheitliche Außenstelle des Kalifats. Vielmehr müssen IS und al-Qaida als Franchise-System verstanden werden. Jeder, dessen Ideologie halbwegs paßt, kann sich anschließen. Aus einer Gruppe Unzufriedener kann so eine neue Provinz des (2015) erfolgreichsten Projektes des salafistischen Dschihadismus werden und damit auch Zugang zu Spenden internationaler Geber – viele davon auf der Arabischen Halbinsel – finden. Zudem wirken die schwarzen Banner auch in Afghanistan einschüchternder als die weißen mit schwarzer Schrift der Taliban.

Weder von den Taliban noch vom IS gibt es halbwegs akkurate Schätzungen zur Kampfstärke – vor allem auch deshalb, weil traditionell die wenigsten Kämpfer in Vollzeit aktiv sind. Ideologisch und hinsichtlich ihrer Ziele gibt es große Unterschiede. Während die Taliban klassische Islamisten sind, also versuchen, mit Gewalt die Macht im Staat zu erringen und ihre Ideologie dann mit staatlichen Mitteln, auf Afghanistan beschränkt, zu verbreiten, repräsentiert der IS den typischen salafistischen Dschihadismus: Durch das gelebte Vorbild sollen die Muslime weltweit überzeugt werden, sich anzuschließen und in ihren jeweiligen Heimatländern die ungläubigen Regime stürzen. Die Taliban waren immer stark im paschtunischen Volksislam verankert, während der IS die strikte Schriftgläubigkeit propagiert.

Berichte über gemeinsame Aktionen beider Gruppen müssen daher mit Vorsicht gelesen werden. Da aber nicht klar ist, inwiefern die Protagonisten des Wilayat Chorasan tatsächlich auf der ideologischen Linie des IS liegen oder ihre alten Überzeugungen lediglich unter neuer Flagge leben, sind begrenzte Kooperationen auf lokaler Ebene durchaus denkbar. Gerade die Taliban in Nord-afghanistan waren in ihren Bündnissen immer eher praktisch orientiert, und radikale Umerziehungskampagnen, wie aus Syrien oder dem Irak bekannt, scheint es auch in den IS-kontrollierten Gegenden noch nicht zu geben. 

Potentiale bieten sich dem IS vor allem unter den Usbeken in den Nordprovinzen. Religiös konservativ, aber gegen die Taliban mit ihrem paschtunischen Ursprung eingestellt, finden sich seit Jahren immer mehr usbekische Kinder in den konservativeren Koranschulen. 2008 hatte der Usbekenführer General Dostum Präsident Karzai unterstützt, aber im Gegenzug keine Posten für seine Klientel erhalten. 2014 wurde er sogar Vizepräsident, für die Usbeken verbesserten sich die Möglichkeiten politischer Teilhabe aber nicht. Ein neuer Spieler, ohne den Makel des Namens Taliban, dürfte für viele konservative Usbeken eine Option darstellen.

Der Druck auf die Taliban erhöht sich

Berichten aus dem Nordwesten zufolge ist der IS vor allem dort aktiv und kann Geländegewinne verbuchen. Dies stellt die Taliban vor eine große Herausforderung, da hier ihre wichtigste Versorgungsroute in den Norden liegt. Sollte es dem IS gelingen, diese Route zu kappen, könnten sich die Machtverhältnisse zwischen den Rivalen ändern. Der Druck auf die Taliban ist deutlich. Nicht ohne Grund fällt die deutliche Zunahme ihrer Aktivitäten mit der Entstehung des IS-Ablegers 2015 zusammen. Sollte sich dies bewahrheiten, könnten sich Kabuler Regierung und Teile der Taliban bald gezwungen sehen, sich gegen den gemeinsamen Feind zu verbünden.

Daß von Chorasan aus eine weitere Eroberung der islamischen Welt ausgeht, muß indes nicht befürchtet werden – eher eine dauerhafte Präsenz einer IS- Splittergruppe in Afghanistans Bergen.