© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/17 / 15. September 2017

Bis zur letzten Konsequenz büßen
Staatsräson: Was den chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo und Holocaust-Leugner Horst Mahler verbindet
Thorsten Hinz

Das öffentliche Drama um den chinesischen Dissidenten und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo im Sommer 2017 war schwer erträglich. Der inhaftierte Liu litt an Leberkrebs im Endstadium. Die Bitte, zur Behandlung ins Ausland reisen zu dürfen, schlugen die Behörden ihm ab. Es ging Liu um das Wohlergehen seiner Frau, denn medizinisch war sein Fall längst hoffnungslos. Er war ein politischer Gefangener. 2008 hatte er mit 300 anderen chinesischen Intellektuellen im Internet das Bürgerrechtsmanifest „Charta 08“ veröffentlicht. Sie erklärten, „daß Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte universelle Werte der Menschheit sind, und daß Demokratie und eine verfassungsmäßige Regierung ein grundlegender Rahmen für den Schutz dieser Werte sind“. Gefordert wurde das Ende der Einparteienherrschaft und der Umbau des Staates nach westlichem Vorbild. Daraufhin wurde Liu wegen „Untergrabung der Staatsgewalt“ festgenommen und Ende 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt. Ein Jahr später wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen. 

Die chinesische Führung blieb davon unbeeindruckt. Weder durfte Liu zur Preisverleihung nach Oslo ausreisen, noch wurde ihm eine Haftverschonung oder -verkürzung gewährt. Nach achteinhalb Jahren in Gefangenschaft starb er am 13. Juli unter behördlicher Aufsicht im Krankenhaus.

Symbolpolitisches Kräftemessen mit China

Die praktizierte Gnadenlosigkeit war menschlich erschütternd. Gleichzeitig gehorchte sie einer stringenten und leicht nachvollziehbaren politischen Logik. An Lius moribundem Leib wurde eindrücklich die chinesische Staatsräson exekutiert. Die Führung in Peking demonstrierte nach innen, daß sie ihr Machtmonopol von niemand antasten läßt; daß Kritiker, die eine Grenze überschreiten, dafür bis zur letzten Konsequenz büßen müssen und auf das Ausland nicht zu hoffen brauchen. Dem Ausland wurde signalisiert, daß China keine Einmischung in seine inneren Angelegenheiten duldet. Die neue Supermacht ist sich ihrer Stellung noch nicht sicher und will keinen Gesichtsverlust riskieren.

Das alles konnte man im Westen wissen. Die lautstarken Forderungen, Liu die Ausreise zu gewähren, liefen auf ein symbolpolitisches Kräftemessen auf Kosten eines Todgeweihten hinaus, dem die lange Flugreise nach Amerika oder Europa nur zusätzliche Qualen bereitet hätte. Wären tatsächlich das Schicksal Lius und das seiner Frau ausschlaggebend gewesen, hätte man auf stille Diplomatie gesetzt, wie sie in Zeiten des Ost-West-Konflikts betrieben wurde – mustergültig übrigens zwischen der Bundesrepublik und der DDR beim Freikauf politischer Häftlinge. In diesem Fall hat auch der Westen den kranken Liu als politisches Demonstrationsobjekt benutzt.

Der Unterschied zwischen Diktaturen und demokratisch verfaßten Rechtsstaaten besteht theoretisch darin, daß erstere den Menschen als Mittel für ihre politischen Zwecke mißbrauchen, während letztere den Menschen als den höchsten Zweck betrachten und seine Würde sichern. Das führt zu der Frage, wie sich dieser Anspruch mit dem Fall des 81jährigen Horst Mahler verträgt, der in mehreren Prozessen wegen Holocaust-Leugnung und Volksverhetzung zu insgesamt zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden ist.

Seit 2009 sitzt er in der JVA Brandenburg, wo er an Herz- und Niereninsuffizienz, neurologischen Ausfällen und einem diabetischen Fuß erkrankte. 2015 entwickelte sich aus einer Infektion eine lebensbedrohliche Blutvergiftung, weshalb er auf die Intensivstation des Städtischen Klinikums Brandenburg verlegt wurde. Der linke Unterschenkel mußte amputiert werden. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes gewährte man ihm im Juli 2015 eine Haftunterbrechung. Anfang 2016 hob das Oberlandesgericht Brandenburg den Beschluß des Landgerichts Potsdam, seine Strafe nach Verbüßung von zwei Drittel der Haftzeit zur Bewährung auszusetzen, wieder auf, weil weitere Straftaten zu erwarten seien und Mahler eine „verfestigte kriminelle Persönlichkeitsstruktur“ aufweise.

Ungarn lieferte ihn nach Deutschland aus

Im Mai 2017 flüchtete er nach Ungarn, das entgegen seinen Erwartungen einen internationalen Haftbefehl vollstreckte und ihn im Juni nach Deutschland auslieferte. Seitdem sitzt Mahler in der JVA Brandenburg seine dreieinhalbjährige Reststrafe ab. Bei der Haftentlassung, sollte er sie denn erleben, wäre er 85 Jahre alt.

Ursprünglich hatte Mahler es auf die Prozesse und Verurteilungen angelegt und deshalb mehrere Selbstanzeigen erstattet. Er spekulierte auf eine Märtyrer-Rolle, ohne zu sehen, daß dafür sämtliche Voraussetzungen fehlten. Mit der Holocaust-Leugnung und dem Lob des Nationalsozialismus kann sich in Deutschland niemand mehr einen Nimbus verschaffen. Sofern die Öffentlichkeit Mahler überhaupt beachtet, wird er als NS-affiner und antisemitischer Querulant wahrgenommen. Im übrigen fehlen der postheroischen Gesellschaft für sein angedachtes Selbstopfer die Antennen. Seine Flucht nach Ungarn war deshalb auch ein Zeichen der Resignation.

Meinungsdelikte härter bestraft als Totschlag

Womit sich erst recht die Frage stellt, welchem Zweck die andauernde Inhaftierung eines schwerkranken Greises dient und warum seine Meinungsdelikte schwerer ins Gewicht fallen als Totschlag, Vergewaltigung und schwere Körperverletzung. Der frühere Bundes-innenminister Otto Schily sagte 2015 dem Zeit-Magazin zum Fall seines ehemaligen Anwaltskollegen: „Den Holocaust zu leugnen ist gewiß abscheulich, moralisch verwerflich, grotesk und töricht. Aber deshalb über Jahre ins Gefängnis?“ Er äußerte grundsätzliche Zweifel am Delikt der Holocaust-Leugnung: „Ich finde, diesen Straftatbestand sollte man überdenken.“ Schily ist nicht der einzige. Der ehemalige Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem hatte schon 2008 geraten, den entsprechenden Paragraphen zu streichen.

Ein demokratischer Rechtsstaat, der sich seiner geistigen und kulurellen Fundamente sicher ist, müßte in der Lage sein, Mahlers Verrücktheiten gelassen zu ertragen. Wenn die Bundesrepublik sich dazu nicht in der Lage sieht, wirft das Fragen nach ihrer inneren Verfassung auf. Die Gründe für Mahlers voraussehbar lebenslange Inhaftierung sind vermutlich mehr politischer als rechtlicher Natur. Seine penetranten Einlassungen berühren nämlich Auschwitz als den bundesdeutschen „Gründungsmythos“ (Joschka Fischer), aus dem mittlerweile eine komplette „Zivilreligion“, das „konsensuale Glaubensbekenntnis der Bürger zu ihrem Staat“, hergeleitet wird.

Der wackere Journalist der Süddeutschen Zeitung, der das im Jahr 2010 schrieb, hatte bei seiner Jean-Jacques-Rousseau-Exegese allerdings übersehen, daß die Zivilreligion von einer Art sein muß, daß sie den Bürger „seine Pflichten liebgewinnen läßt“. Dem französischen Aufklärer ging es um ein positives, lebensbejahendes Bekenntnis, das kraftvoll genug ist, um sich ständig zu erneuern und zu modifizieren. Bei der Zivilreligion, die sich auf Auschwitz stützt, handelt es sich hingegen um einen Negativbezug, der den Bürger in den Stand dauerhafter Schuld und Betroffenheit versetzt. Um sich gegen neue Impulse zu behaupten, sind ihre Deuter und Theologen zur dogmatischen Verengung und autoritären Machtdemonstration gezwungen. Gegen Ketzer müssen sie eine Mechanik des Ausschlusses in Gang setzen. Mahlers Radikalisierung bildet dazu die spiegelbildliche Entsprechung, die wiederum mit einer desto härteren Machtdemonstration beantwortet wird. 

Der Ort der eskalierenden Demonstration ist nun – wie bei Liu – der hinfällige Leib, der damit vom Staat vollständig zum Mittel degradiert wird. Das ist eine konsequente Entwicklung. Für den vom Konsens Ausgeschlossenen gelten die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln zum Schutze ihrer „Würde“ nicht mehr.

Der Philosoph Giorgio Agamben hat darauf hingewiesen, daß die Trennwand zwischen Diktaturen und Massendemokratien dünn ist. Im Grunde handelt es sich lediglich um eine Membran. Im Buch „Homo sacer“, im Kapitel „Die Politisierung des Lebens“, beschreibt der italienische Meisterdenker eine unheimliche Dialektik: Die staatlichen Mechanismen, die die Freiheiten der Individuen sichern sollen, begründen auch deren neue Abhängigkeit „und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch furchterregenderes Fundament“.

Die Ähnlichkeiten in der Behandlung des chinesischen Dissidenten und des deutschen Holocaust-Leugners sind folglich ein böses Omen.