© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Revolution von oben
EU: Junckers Vorstoß eines „Euro für alle“ hebelt die nationale Selbstbestimmung aus
Dirk Meyer

Alternde Kommissionspräsidenten können gefährlich sein, denn sie haben keine Angst vor der Zukunft. Diese frei übersetzte Redewendung von George Bernard Shaw könnte auf Jean-Claude Juncker zutreffen, der in seiner Rede zur „Lage der Europäischen Union“ vergangene Woche seine wohl letzte Gelegenheit als EU-Kommissionspräsident nutzte, um die EU auf einen vertieften Integrationskurs zu bringen. 

Seine zentrale Vision: die Einführung des Euro in allen Mitgliedstaaten. Bislang müssen alle Mitgliedstaaten von Rechts wegen den Euro einführen, die die sogenannten Konvergenzkriterien – vorrangig Preisniveaustabilität, Schuldenstand 60 Prozent und Haushaltsdefizit drei Prozent – erfüllen. Nur Dänemark und Großbritannien konnten eine dauerhafte Ausnahmeregel durchsetzen. De facto wird auch für Schweden der Nicht-Beitritt akzeptiert, denn 2003 stimmte die Bevölkerung gegen den Euro, den derzeit auch Polen, Ungarn und Tschechien nicht wollen.

Die Europäische Währungsunion war von Beginn an ein politisches Projekt. Nicht nur als Zugeständnis der deutschen Regierung insbesondere gegenüber Frankreich zur Erlangung der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und der unumkehrbaren Einbindung Deutschlands, sondern vor allem als Integrationsschub für die EU galt der Euro im Vertrag von Maastricht als Vehikel einer politischen Vision. Ökonomische Bedenken eines nicht optimalen Währungsraumes wurden beiseite geschoben. Damit war das Risiko verknüpft, bei einem Scheitern dieser Währungsunion zugleich auch eine gravierende Beschädigung des „Gemeinsamen Hauses Europa“ in Kauf nehmen zu müssen. 

Die Banken- und Staatsschuldenkrisen haben die wirtschaftlichen und politischen Gefahren für einzelne Länder und für die Gemeinschaft als ganze offen zutage treten lassen. Zwar hat man versucht, durch die Nichtbeistandsklausel, das Verbot der monetären Staatsfinanzierung und das Gebot der Unabhängigkeit der EZB institutionelle Leitplanken zum Schutz der Währung einzuziehen. Doch fehlte es an Glaubwürdigkeit. Die nachträglich errichteten Rettungsschirme, der Fiskalpakt, das neue gesamtwirtschaftliche Überwachungsverfahren sowie Frühwarnsysteme für übermäßige makroökonomische Ungleichgewichte sind vage formuliert, lassen Spielräume und bleiben sanktionslos. Anstelle von Regelbindung ist ein Ad-hoc-Handeln getreten.

Die Einheitswährung ist deshalb in eine Sackgasse geraten, aus der heraus es nur zwei Lösungen gibt. Die eine heißt Währungsdesintegration: Zulässigkeit von Euro-Austritten, Einführung nationaler Währungen, Euro-Parallelwährung. Zugleich bliebe den Mitgliedstaaten ihre fiskalich-nationale Unabhängigkeit erhalten. 

Die Alternative ist der „Euro für alle“. Dieser funktioniert allerdings nur, wenn gleichzeitig soziale und regionale Umverteilungsinstrumente errichtet werden. Bulgarien, Rumänien, Polen, Kroatien und Ungarn verfügen nur über ca. ein Drittel des Durchschnittseinkommens der Eurozone. Die Wirtschaftsstrukturen sind teils noch landwirtschaftlich geprägt. Einen erfolgversprechenden Euro-Beitritt aus eigener Kraft stellt selbst Juncker in Frage. Damit diese Länder keinen sofortigen Schiffbruch erleiden, will er ein „Vor-Beitrittsinstrument“ errichten, „das ihnen technische, manchmal auch finanzielle Heranführungshilfen bietet“. Damit benötigt der „Euro für alle“ eine Eintrittsprämie für unreife Mitgliedstaaten.

Wie die Krise der mediterranen Staaten gezeigt hat, machen unterschiedliche politische Kulturen (Reformwiderstände, Korruption) und ökonomisch-strukturelle Divergenzen eine dauerhafte Alimentation notwendig, will man ein Scheitern des Euro vermeiden. Deshalb schlägt der Kommissionspräsident einen Europäischen Währungsfonds (EWF) vor, der schrittweise aus dem Euro-Krisenfonds ESM hervorgehen soll. 

Seine Aufgaben: Krisenfonds bei Zahlungsunfähigkeit und Schlechtwetterfonds zur Bewältigung ökonomischer Schocks sowie Ungleichgewichte. Schließlich könnte der EWF zum Eurohaushalt mit Kreditfunktion als reguläres Transferinstrument ausgebaut werden – ausgestattet mit viel Geld und Bürgschaften der reicheren Nord-Staaten. Der EWF wäre das eigentliche Vehikel zur Vertiefung der EU und der Währungsunion. Das Brisante daran: Der EWF müsse „fest in unserer Europäischen Union verankert sein“. 

Während der ESM auf völkerrechtlicher Basis an die Zustimmung des Bundesfinanzministers und dessen Legitimation durch den Bundestag gebunden ist, wäre der Fonds supranational auf Kommissionsebene angesiedelt und den nationalen Entscheidungsträgern entzogen – was einer Änderung des Grundgesetzes bedarf. Kredite könnten ohne Zustimmung des Bundestages vergeben werden. Ein Finanzminister für den Euroraum würde „alle EU-Finanzierungsinstrumente koordinieren“, sprich die Mittel verteilen. Aus der Kommission dringt der Gedanke, die Funktion des Finanzministers mit der Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken und der nationalen Haushaltsaufsicht des Währungskommissars in einer Art „Superkommissar“ zusammenzulegen. Der EU-Zentralismus wäre gestärkt, das (national-)demokratische Element ausgehebelt – Revolution von oben. 

Die Pointe: Als EU-Parlamentspräsident war Martin Schulz an dem Fünf-Präsidenten-Bericht „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“ als Konzeptpapier für den Juncker-Plan wesentlich beteiligt.






Prof. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.