© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

„Unzureichende Lagekenntnisse“
Untersuchungsbericht: Beim Anschlag auf dem Breitscheidplatz hat die Berliner Polizeiführung versagt
Ronald Berthold

Zwölf Menschen starben, mindestens 66 wurden verletzt, als Anis Amri mit einem mit Stahlträgern beladenen Sattelzug in den Berliner Weihnachtsmarkt raste. Das war am 19. Dezember vorigen Jahres. Jetzt steht fest: Der Polizeieinsatz war ein Fiasko. Der noch unveröffentlichte Bericht einer „Nachbereitungskommission“ beim Polizeipräsidenten in Berlin, der der JUNGEN FREIHEIT vorliegt, macht das ganze Ausmaß des Versagens deutlich.

Auffällig war bereits in den Stunden nach dem Anschlag, daß sich der Regierende Bürgermeister Michael Müller und Innensenator Andreas Geisel (beide SPD) hartnäckig weigerten, das Offensichtliche anzuerkennen – nämlich, daß es sich um einen Terroranschlag handelte. Sie sprachen von einem möglichen „Unfall“. Trotz des kurz zuvor geschehenen, ähnlich gelagerten Lkw-Attentats von Nizza schätzten auch zuständige Polizeiführer und das Lagezentrum das Geschehen als „Verdacht Amoklage“ ein. Die Kommission schreibt: „Es folgten verschiedene Klassifizierungen bis sich der Führungsstab der Direktion Einsatz zunächst am 20.12.2016, gegen 09:44 Uhr auf ‘Verdacht des Anschlagsfalls’ und um 16:03 Uhr auf ‘Anschlag’ festlegte.“

Presesprecher vom       Tatort verschwunden

Wie politisch ungelegen den Verantwortlichen der Massenmord eines muslimischen Flüchtlings kam, zeigt auch, daß sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bis heute weigert, Verletzte und Angehörige der Toten zu empfangen. Das ZDF lud sogar gerade erst die Sprecherin der Opfer aus einer Wahlsendung mit Merkel wieder aus, nachdem die Redaktion diese vorher gebeten hatte, dort Fragen an die Regierungschefin zu stellen.

Wohl auch durch die Ignoranz, den „Vorfall“ am Breitscheidplatz als Terrorakt einzuordnen, „sind die zu treffenden Maßnahmen nicht an der Klassifizierung ausgerichtet worden, während die Einsatzkräfte losgelöst von dieser agiert haben“. Denn viele Polizisten arbeiteten nun auf eigene Faust. So wollte der rufbereite Polizeiarzt unbedingt helfen. Zweimal, so geht aus dem Bericht hervor, bot er sich telefonisch bei der Einsatzleitzentrale an. Doch diese lehnte ab. Andere Beamte fragten nicht, sondern sie kamen, obwohl sie frei hatten, zum Anschlagsort. In dem Bericht wird das so formuliert: „Durch die Medien und Smartphones waren zahlreiche Dienstkräfte frühzeitig extern informiert und versetzten sich ohne weiteres Zutun in den Dienst.“

Vielleicht lag es auch daran, daß LKA-Beamte erst „am Nachmittag des 20.12.2016 … in der Fahrerkabine des Sattelzuges die auf ‘Ahmed Almasri, geb. 01.01.1995 in Skendiria/Tunesien’ ausgestellte Duldungsbescheinigung“ fanden. Außerdem entdeckten sie ebenfalls erst dann „ein Anis Amri zuzuordnendes Mobiltelefon sowie seine Fingerabdruckspuren am Lkw“. Mit einem Tag Verspätung kamen die Beamten dem Massenmörder auf die Spur. Dabei lagen seine Papiere direkt am Tatort. In der Zwischenzeit hatten die Beamten einen anderen Asylbewerber festgenommen, der zwar ebenfalls bereits durch Straftaten bekannt war, aber mit dem Anschlag nichts zu tun hatte.

Danach hatte man offenbar die Hände in den Schoß gelegt. Der Bericht spricht von „unzureichenden Lagekenntnissen des Polizeiführers“. Folge: „Im Rahmen der Lagebewältigung wurden weder durch die Leitstellen noch durch den Polizeiführer offene/verdeckte Sofortfahndungsmaßnahmen ausgelöst oder anderweitig koordiniert im Einsatzraum durchgeführt.“ Im Klartext: Niemand suchte nach dem Täter. Es verstrich kostbare Zeit, die Amri für seine Flucht nutzte.

Außerdem deckt der Bericht weiteres Versagen auf: „Ein Kommunizieren der Führungsübernahme an alle Einsatzkräfte und Leitstellen, ein Festlegen der Führungsverantwortlichkeiten der einzelnen Einsatzabschnitte oder ein Zuweisen von Kräften erfolgte nicht.“ Und: Die Polizisten am Anschlagsort erhielten vom Polizeiführer „keine Aufträge und handelten in weiten Teilen intuitiv im Sinne der Konzeption Anschläge“. Der Bericht bezeichnet all das als „ungeeignet“. Drei weitere Stunden habe es gedauert, bis der Polizeiführer Phase 2 die Einsatzleitung übernommen habe. Das sei „als problematisch zu bewerten“.

Hinzu kommt, daß die Polizeipressesprecher einfach vom Tatort verschwanden, obwohl inzwischen Journalisten aus der ganzen Welt am Breitscheidplatz auf Antworten warteten. Diese Arbeit wurde laut Bericht „ab dem 20.12.2016 den Einsatzkräften am Anschlagsort überlassen“. Das habe „Einsatzkräfte gebunden, die mit anderen Aufgaben betraut waren“.

Da von der Polizeiführung keinerlei Aufträge in diese Richtung kamen, nahmen Staatsschützer die Fahndung nun in die eigene Hand. Da waren bereits mehr als drei Stunden vergangen. Die Beamten taten das Selbstverständliche, was Politik und Polizeiführung offenbar nicht genehm war: Sie begannen eine Überprüfung der in Berlin bekannten islamistischen Gefährder. Weitere zwei Stunden verstrichen, bis die Berliner Polizeiführung diese Überprüfung deutschlandweit auslöste. Da war den meisten Menschen bereits längst klar, daß es sich um einen islamistischen Anschlag handeln könnte. Und Amri war über alle Berge. Italienische Polizisten erschossen ihn am 23. Dezember.